95-jährige Hanauerin ist zwei Mal die Woche beim Lauftreff aktiv

Die Hanauerin Inge Seidel hat mit 80 Jahren die Lust am Laufen entdeckt. Heute ist sie 95 und das älteste Mitglied im Hanauer Lauftreff. Wir haben sie auf eine Runde durch den Wilhelmsbader Kurpark getroffen.
Hanau – Sonntag kurz vor halb 10. Auf dem Parkplatz an der Wilhelmsbader Allee stehen schon mehr als 40 Läuferinnen und Läufer in bunten Jacken, mit Stirnbändern und Mützen. Es ist nass-kalt, aber die Sonne blinzelt durch die Wolken. Auch Inge Seidel ist da. „Die Inge“, wie sie hier alle nennen, ist seit 15 Jahren beim Hanauer Lauftreff. Beim ersten Mal war sie 80.
Ilse, eine Freundin, habe sie „geworben“. Deren Mann lief schon regelmäßig seine Runden. Die beiden Frauen von da an auch. „Ich wollte gern laufen, bin vorher aber nie dazu gekommen“, erzählt Inge Seidel. 15 Jahre jünger war ihre Freundin, 15 Jahre sind sie zusammen gelaufen – immer mittwochs und sonntags. Nur, wenn mal eine krank war oder das Wetter besonders schlecht, legten sie eine Pause ein. „In diesem Jahr ist Ilse gestorben“, erzählt die 95-Jährige mit Traurigkeit in der Stimme.
Sie lebt, ist gesund. Vielleicht ist Inge Seidel deshalb so demütig und dankbar. „Das Laufen ist ein Geschenk“, sagt die resolute Seniorin in Turnschuhen, hellblauer Jacke und mit hochgestecktem weißem Haar. „Ich danke Gott jeden Tag dafür, dass ich gesund bin und noch laufen kann.“
Lauftreff in Hanau: 95-Jährige läuft regelmäßig fünf Kilometer
Für das Interview beim Nordic Walken sind wir ausnahmsweise ohne Gruppe unterwegs. „Wenn ich laufe und rede, kann ich nicht so schnell, dann ist es besser, wir gehen zu zweit.“ Früher ist Inge in der 6er-Gruppe gelaufen, eine Stunde, sechs Kilometer. Der Weg führte durch den Wald. Den kleinen Berg, weil er ihr zu anstrengend war, habe sie dabei immer besonders schnell und als Erste erlaufen. „Wenn ich dann oben war, habe ich mich gefreut“, erzählt sie und lacht.
Jetzt, „so die letzten ein, zwei Jahre“, merke sie das Alter. Es gehe nicht mehr so einfach. Trotzdem läuft die 95-Jährige noch in der 5er-Gruppe. Eine Stunde. Fünf Kilometer. Wenn sie zurückfällt, warten die anderen gern. „Aber eigentlich will ich nicht, dass sie auf mich Rücksicht nehmen“, sagt die Wahl-Hanauerin.
1960, ein Jahr vor dem Mauerbau, flüchtet die gebürtige Ostberlinerin zusammen mit ihrem damals 15-jährigen Sohn und einer befreundeten Familie. Ihr Verlobter war in Russland gefallen, sie bleibt Zeit ihres Lebens ohne Ehemann. Es verschlägt sie nach Hanau. Die allein erziehende Mutter arbeitet im Altersheim, erst als Köchin, später als Hauswirtschafterin.

95-jährige Läuferin aus Hanau: Früher hat sie Kindern Deutsch beigebracht
Noch heute hat Inge Seidel Kontakt zu alten Arbeitskollegen – und deren Kindern. Denn schon damals brachte sie ihnen gern Deutsch bei, tat das auch nach dem Ruhestand weiter. „Mit Kindern zu arbeiten, das war meins, das hat mir gut getan“, sagt sie, und es schwingt ein bisschen Stolz in ihrer Stimme mit, denn vielen Kindern von Gastarbeitern aus Jugoslawien oder der Türkei brachte sie die deutsche Sprache bei. Hilfsbereit. Herzlich. „Ich hatte nie Langeweile und konnte immer jemandem behilflich sein“, fasst die lebensbejahende Frau ihr Engagement zusammen.
Inge Seidel wohnt immer noch allein unweit der Bruchköbeler Landstraße. Ein Pflegedienst hilft ihr morgens und abends beim Anziehen der Gummistrümpfe, einmal die Woche kommt jemand zum Putzen und Einkaufen vorbei. Sie kocht selbst, pflegt ihre vielen Kontakte. Auch Seidels Sohn, der in Fulda lebt, die drei Enkel und sechs Urenkel kommen gern zu Besuch. Neben dem Laufen und den netten Gesprächen, die man dabei immer führen könne, gebe die Kirche ihr Kraft und Halt. Die Corona-Zeit, sagt sie, hätte sie sonst nicht überstanden. Inge Seidel ist Mitglied in der Adventgemeinde an der Frankfurter Landstraße. Morgens und abends hält sie Andacht zuhause, singt, liest in der Bibel. „Da habe ich das Gefühl, dass ich nicht alleine bin.“
95-jährige Hanauerin ist das Vorbild für andere Mitglieder des Lauftreffs
Und auch der Lauftreff ist in den vergangenen 15 Jahren längst wie eine zweite Familie geworden. Bekannte nehmen Inge Seidel jede Woche im Auto mit nach Wilhelmsbad. Und die Läufer? Die sind stolz auf ihr ältestes Mitglied. „Die Inge ist mein Vorbild“, sagt Melanie Schimmelpfennig und lacht. „So fit zu sein im Alter – das ist toll, einfach nur erstrebenswert.“
Inge Seidel hat ihre Runde für heute geschafft. Sonntag geht’s weiter. Vielleicht scheint dann auch wieder die Sonne. „Bei Sonnenschein“, sagt die 95-Jährige, „laufe ich einfach am liebsten – da ist die Jahreszeit ganz egal.“ (Yvonne Backhaus-Arnold)