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Apotheker müssen Kunden wegschicken: Medikamente werden in der Region Hanau knapp

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Von: Jan-Otto Weber, Lisa Mariella Löw, Christian Dauber

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Griechischer Beipackzettel: Weil der vom Kinderarzt verschriebene Hustensaft nicht lieferbar ist, musste ein Nidderauer Familienvater auf ein ausländisches Ersatzprodukt zurückgreifen – und es aus eigener Tasche bezahlen.
Griechischer Beipackzettel: Weil der vom Kinderarzt verschriebene Schmerzsaft nicht vorrätig ist, musste ein Nidderauer Familienvater auf ein ausländisches Ersatzprodukt zurückgreifen – und es aus eigener Tasche bezahlen. © Jan-Otto Weber

Der Mangel an Medikamenten spitzt sich immer weiter zu. Apotheker in der Region Hanau schlagen Alarm.

Region Hanau - Die hessischen Apotheken sind aktuell nicht mit ausreichend Arzneimitteln versorgt. Das teilt Alexander Schopbach, Pressesprecher vom Hessischen Apothekerverband, auf Anfrage mit. Über 600 Medikamente, überwiegend Insuline, Antibiotika, Fieber- und Hustensäfte für Kinder und Blutdruckmittel seien nicht lieferbar. Und das, obwohl das Bundeskabinett Anfang April ein „Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln“ beschlossen hat.

Darin wird zwar geregelt, dass sich Apotheker nach einer Alternative für das nicht verfügbare Arzneimittel umschauen müssen. Jedoch gehe dies nur in Rücksprache mit dem zuständigen Arzt, sagt Giuseppe Polizzotto, Inhaber der Einhorn-Apotheke und der Rochus-Apotheke in Großauheim: „Erst ist man in der Warteschleife, dann landet man bei der Sprechstundenhilfe. Anschließend warten wir auf den Rückruf vom Arzt. Und vorne steht der Kunde und scharrt mit den Hufen.“ Beinahe lächerlich sei auch die Höhe der Aufwandsentschädigung, die er für diesen Mehraufwand bekommt: Sie liegt bei 50 Cent.

„Das tut mir in der Seele weh“, sagt Apotheker Polizzotto

Ewiges Herumfragen, das kennen auch die Angestellten einer Nidderauer Apotheke: „Im Notdienst mussten wir neulich nachts bis nach Aschaffenburg telefonieren, um das benötigte Medikament zu bekommen.“ Nicht immer kann allen Kranken während des Notdienstes geholfen werden. So muss Apotheker Polizzotto nachts um halb drei manchmal Menschen ohne Medikamente wegschicken: „Das tut mir in der Seele weh.“ Gerade für Mütter mit fiebrigen Kindern oder Patienten mit hohem Blutdruck seien die Lieferengpässe „ein wahrer Spießrutenlauf“, sagt Schopbacher. Denn bei der Verteilung der Medikamente gelte: „Wer beim Großhändler zuerst kommt, der mahlt zuerst“, sagt Schopbach. Weil sich der Lieferstatus einzelner Medikamente teilweise minütlich ändere, säßen Apotheker für ein paar Packungen bis tief in die Nacht vorm PC.

Eine Alternative zum originalverschriebenen Rezept sind sogenannte Generika, also Ersatzprodukte mit dem identischen Wirkstoff. Ein Nidderauer Familienvater berichtet von einem Schmerzsaft-Generikum für seine sechsjährige Tochter: „Der Originalbeipackzettel war in griechischer Sprache verfasst.“ In der Apotheke bekam er zwar eine deutsche Übersetzung. Da er jedoch nicht den vom Kinderarzt verschriebenen Saft, sondern nur ein Ersatzpräparat bekommen hatte, musste er das Medikament aus seiner eigenen Tasche bezahlen. Zukünftig werde das noch teurer werden, prognostiziert Marc Schmidt, Inhaber der Apotheken Gloria, Postcarré und Altstadt: „Die Hersteller von Generika haben ihre Preise um 20 bis 50 Prozent angehoben.“

Ab Mai werde der Festbetrag, den der Bund bislang zugezahlt habe, wieder gesenkt werden. Die Konsequenz: Die Differenz bliebe am Kunden hängen. Auch bei Ersatzmedikamenten kommt es zu Lieferengpässen: „Schon jetzt ist klar, dass einige Generika-Hersteller die Versorgung im kommenden Winter nicht gewährleisten können. Sie nehmen keine Vorbestellungen mehr an“, sagt Schmidt.

Krankenhäuser stellen Medikamente teils selbst her

Neben Ausweichmedikamenten gibt es im Klinikum Hanau ein weiteres Mittel, um der Arzneiknappheit entgegenzuwirken. Auch dort fehlen über 300 Medikamente: „Die Krankenhausapotheker stellen in Zusammenarbeit mit den Ärzten Ibuprofen-Zäpfchen, Elektrolytlösungen, Antibiotika-Säfte und Kapseln für Kinder selbst her“, sagt Pressesprecherin Nadja Turger. Dabei seien in Deutschland hergestellte Arzneimittel eine Seltenheit. Apothekeninhaber Marc Schmidt berichtet, dass 97 Prozent der Medikamente aus China oder Indien kämen. In der Nidderauer Apotheke sieht es ähnlich aus: „Für Paracetamol gibt es in Deutschland beispielsweise nur noch zwei Hersteller. Alle anderen haben die Produktion für den deutschen Markt eingestellt, weil es sich nicht lohnt.“ Im Ausland könnten sie oftmals das Doppelte verdienen, meint auch Apothekeninhaber Polizzotto.

Insgesamt sorgt die Medikamentenknappheit für einen hohen organisatorischen und zeitlichen Aufwand. Marc Schmidt berichtet, dass bei ihm eine Mitarbeiterin voll ausgelastet sei mit der Kommunikation zwischen den Ärzten und Apotheken sowie mit der Suche nach Therapiealternativen. Wenn trotz aller Bemühungen keine Lösung gefunden werden könne, führe dies zu Unverständnis bei den Kunden: „Ich wurde schon wüst beschimpft“, sagt Schmidt. Wann sich die Verfügbarkeit von Ibuprofen, Antibiotika und Co. wieder bessert, sei noch nicht abzusehen. „Ich sehe keine Perspektive auf Besserung in den kommenden fünf Jahren. Wir sind aktuell auf einem Tiefpunkt.“ (Von Jan-Otto Weber, Lisa Mariella Löw und Christian Dauber)

Nicola Uffeln leitet eine Apotheke in Seligenstadt. Für den aktuellen Medikamentenmangel sieht sie Gründe, glaubt aber an die Kompetenz der Apotheken.

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