Die „Patrontasch“ schließt
Nach 15 Jahren: Hanauer Kultkneipe ist bald Geschichte
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Die Entscheidung habe er sich nicht leicht gemacht, sagt Renato do Nascimento, Besitzer der „Patrontasch“ in Hanau. Die Kultkneipe schließt bald ihre Pforten.
Hanau - Viele Monate hat er abwogen: Weitermachen oder nicht? Im Oktober hat er hat sich für Letzteres entschieden. Und so schließt die „Patrontasch“ in Hanau, die der gebürtige Brasilianer und sein Ehemann Georg „Schorsch“ Böswald vor 15 Jahren eröffnet haben, zum 30. Dezember.
Schorsch, graue Haare, Brille, guter Koch, guter Esser, hatte in der Küche den Hut auf, manchmal trug er eine orangefarbene Schürze, auf der das Wort „Maitre“ prangte. Bis weit in seine 70er stand er am Herd, zwischendurch kam der gebürtige Augsburger, der viele Jahre eine Reinigung an der Bangertstraße betrieben hat und mindestens genauso viele Jahre bei der Laientravestie-Show „Rosa Schwäne“ die Trude Herr für die gute Sache mimte, auf einen Plausch ins Lokal. Hier war Renato der Chef. Der trug gern gelbe Poloshirts.
Hanauer Kultkneipeschließt: Eines Abends war da Schorsch
Renato do Nascimento kommt aus Natal, eine Stadt so groß wie Frankfurt im Nordosten Brasiliens. Hier gibt es lange Strände und viel Sonne. Renato ist Elektrotechniker. Er arbeitet drei Jahre in Gold- und Kupferminen, 1200 Kilometer von Natal entfernt, wo heute noch drei Geschwister leben. „Meine älteste Schwester lebte damals bereits in Wolfgang. Sie hat gefragt, ob ich nicht mal zu Besuch kommen will“, erzählte er vor vielen Jahren in einem Feriengespräch mit unserer Zeitung. Er blieb ein Jahr, lernte sechs Monate lang Deutsch und kehrte dann nach Brasilien zurück. Ein paar Monate später rief seine Schwester wieder an. 1993 war das. Renato kam erneut und blieb.
„Eigentlich wollte ich Sportwissenschaften, Spanisch und Sportmedizin in Frankfurt studieren“, erzählt er. Die Zulassung hatte er in der Tasche, aber kein Geld, um das Studium bis zum Ende zu finanzieren. Und eines Abends, in Frankfurt, da lernte er Schorsch kennen. Der stand hinter der Theke und kellnerte, Renato stand davor und bestellte. Der Rest ist Geschichte. Mit der „Patrontasch“, seit 1867 gibt es an diesem Standort eine Gaststätte, hat sich das Ehepaar 2008 einen Traum erfüllt.
„Patrontasch“ in Hanau: Schlaganfall änderte alles
Im November 2019 hatte Schorsch einen Schlaganfall, ist seither auf der linken Seite gelähmt. Er gehe nicht mehr vor die Tür, sei schon Monate nicht mehr in seinem Lokal an der Bruchköbeler Landstraße gewesen, sagt do Nascimento. „Die ‘Patrontasch’ ohne ihn ist nicht mehr die ‘Patrontasch’.“ Und seit Corona läuft auch das Geschäft nicht mehr gut. Im ersten Lockdown hatten die Stammgäste für die beiden Inhaber gesammelt. Eine tolle Geste, ja, aber am Ende nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der 58-Jährige macht seither alles allein. Küche. Theke. Einkauf. Buchhaltung. An drei Tagen in der Woche hilft seine Schwester.
Kein Zustand. „Manchmal kommt es eben anders, als man denkt“, sagt der groß gewachsene Mann mit dem grau gewordenen Vollbart, dem man die Strapazen der vergangenen Monate ansieht. „Schorsch braucht mich jetzt. Ich möchte ihn nicht in ein Heim geben, sondern zu Hause pflegen.“
Stammgäste der Hanauer Kultkneipe sind traurig
„Wir sind schon sehr traurig, dass die ‘Patrontasch’ schließt“, sagt Hiltrud Hausner. Die Hanauerin ist seit zwölf Jahren regelmäßig zu Gast. Gerade sitzt sie mit zwei Freundinnen am runden Tisch. Hier sitzen die Stammgäste. Eine der beiden Seniorinnen kommt mindestens einmal pro Woche, manchmal auch zwei, aus Erlensee zum Essen. Sie bestellt dann den „Kleinen Schorsch“, das legendäre Schnitzel in Senioren-Portion. Die drei Damen schätzen das Lokal. Gemütlich sei es hier. Einladend. Hiltrud Hausner kann sich noch an die alten Zeiten erinnern: „Ich habe alles mitgemacht: Silvester, Fasching, einen brasilianischen Abend. Einmal hat Schorsch sich als Frau verkleidet“, erzählt sie und schmunzelt.
Neulich haben die rüstigen Seniorinnen den 82-Jährigen zu Hause besucht, Kuchen mitgebracht. „Vielleicht machen wir das ab und an“, sagt die Hanauerin. „Ihr seid willkommen“, ruft do Nascimento hinter der Theke und lacht. Seine Gäste sind ihm ans Herz gewachsen, über die Jahre viele Freundschaften entstanden. „Ich wollte immer, dass die Leute sich wie zu Hause fühlen und nicht nur zum Essen kommen.“
Hanau: Nachfolger ist gefunden
Am 30. Dezember hat er noch mal Mittagstisch und dann ein letztes Mal am Abend geöffnet „bis der letzte Gast geht. Hoffentlich nicht erst um 3 Uhr“, sagt der Wahl-Hanauer und lacht.
Die gute Nachricht: Es geht weiter. Mitte Januar werden die neuen Betreiber mit dem Umbau beginnen. Ab Februar soll es in dem Lokal dann mexikanische Küche geben. Und wer weiß, vielleicht arbeitet Renato do Nascimento irgendwann wieder hier mit. „Gefragt hat man mich schon“, sagt der 58-Jährige, „aber jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür.“ (Yvonne Backhaus-Arnold)
Bereits Anfang des Jahres schloss mit dem Traditionslokal „Zum grünen Baum“ eine andere Kultkneipe in Hanau. Für die Betreiber keine einfache Entscheidung – die Gründe für das Aus waren vielfältig.