Hanau: Erneuter Prozess gegen Vater des Attentäters vom 19. Februar

Staatsanwalt Martin Links trägt keinen Hut. Vor Gericht wäre das auch nicht erlaubt. Aber während der fast sechseinhalbstündigen Verhandlung vor der 6. Kleinen Strafkammer am Landgericht gegen den Vater des rassistisch motivierten Attentäters vom 19. Februar 2020 scheint dem Ankläger mehrfach die imaginäre Hutschnur zu platzen.
Hanau – Der 75-Jährige auf der Anklagebank gegenüber redet sich fast permanent in Rage und schlägt - trotz zigfacher Ermahnungen durch die Kammer - immer wieder einen lauten Ton an. „Eigentlich reicht es jetzt“, meint Links und regt an, Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen, nachdem sich R. sogar dazu versteigt, ihn als Staatsanwalt der „Volksverhetzung“ zu bezichtigen und mehrfach die Medienvertreter beleidigt.
„Ich bin ein großer Freund von Ordnungshaft, aber momentan läuft es noch einigermaßen in geordneten Bahnen“, entgegnet Angela Peter, die Vorsitzende Richterin, lächelnd. So leicht lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie trägt seit über drei Jahrzehnten die Robe einer Richterin am Landgericht. Nerven aus Titanstahl. Renitente und beratungsresistente Menschen sind ihr nicht fremd.
Angeklagter wirft Staatsanwalt „Volksverhetzung“ vor
Die Vorsitzende leitet den Berufungsprozess gegen R. souverän. Vor knapp einem Jahr ist der 75-Jährige vom Hanauer Amtsgericht wegen drei Fällen von Beleidigung zu einer Geldstrafe von 5400 Euro verurteilt worden. Dagegen hat R. Berufung eingelegt – ebenso die Staatsanwaltschaft, die eine weitaus höhere Geldstrafe gefordert hatte.
R. soll in einer Strafanzeige die Demonstranten in der Nähe seiner Wohnung in der Weststadt als „wilde Fremde“ tituliert haben, darunter auch die Familien von sechs Opfern. Das Spezialeinsatzkommando, das sein Haus gestürmt hatte, soll er als „Terroreinheit“ bezeichnet und Oberbürgermeister Claus Kaminsky unter anderem der „Wählertäuschung“ bezichtigt haben.
Vater von Attentäter vor einem Jahr wegen Beleidigung verurteilt
Schon zu Beginn der Verhandlung meint der Angeklagte, er könne den Gerichtssaal 215 als seine „Bühne“ ansehen. Er versucht, durch den Saal zu spazieren, mit der Vorsitzenden einen Dialog zu führen und kündigt an, er wolle „5000 Seiten“ verlesen und eine zweistellige Zahl von Beweisanträgen stellen.
Doch Peter verweist ihn immer wieder in die Schranken, fordert ihn auf, seine Lautstärke zu mäßigen und unterbricht die Verhandlung immer wieder für kurze Pausen, aus denen R. dann stets etwas abgekühlter kommt – bevor er sich erneut in Rage redet.
Gutachter diagnostizierte „wahnhafte Störung“
Die Erklärung für dieses Verhalten stammt bereits aus der ersten Instanz, als der psychologische Gutachter R. analysiert und eine „wahnhafte Störung“ diagnostiziert hatte. Dies sei durch die „Egozentrik“, das „Sendungsbewusstsein“, „Realitätsverkennung“, unangepasstes Verhalten sowie sein destruktives Verhalten belegt.
Im Oktober vergangenen Jahres hatte R. das vor dem Amtsgericht eindruckvoll gezeigt. Er erschien nicht zum Prozess, musste von der Polizei vorgeführt werden und wandelte stundenlang durch den Saal.
Bei der Vorsitzenden Richterin Peter kommt er damit nicht durch. „Dort ist Ihr Platz. Suchen Sie sich ein schönes Plätzchen aus. Ob Sie dann sitzen oder stehen, das können Sie sich gerne aussuchen.“ Versuche von R., aus der Anklagebank „auszubrechen“, werden im Keim erstickt: „Sie bleiben an ihrem Platz, haben Sie mich klar verstanden?“
„Ausbruchversuche“ aus Anklagebank
Trotz des rauen Tons fährt die Richterin unbeeindruckt fort, verliest alle schriftlichen Beweismittel und hakt ihren „Fahrplan“ ab. Damit verblüfft sie den Angeklagten, dem zwar auf Staatskosten ein Pflichtverteidiger zur Seite steht. Doch weder hat R. vorher mit Rechtsanwalt Andreas Winter gesprochen, noch nimmt er irgendwelche Ratschläge entgegen. Der Verteidiger, der mehrere Meter von seinem Mandanten sitzt und zu bereuen scheint, dass er Jura studiert hat, ist fast zu bedauern.
Der 75-Jährige ist kurz aus dem Konzept. „Und wie geht es jetzt weiter?“, will er wissen. „Die Plädoyers – dann haben Sie selbstverständlich das letzte Wort“, erläutert Peter freundlich und lässt R. zunächst gewähren, seine kruden Ideen vorzutragen. Sein Sohn sei angeblich einer „Verschwörung“ auf der Spur gewesen und deshalb „im Wald erschossen worden“. Mit der menschenverachtenden Tat will er nichts zu tun haben: „Mein Sohn ist nicht der Attentäter.“
„Mein Sohn ist nicht der Attentäter“
Er selbst solle „mundtot“ gemacht werden. Wer R. stundenlang zuhören muss, hat daran berechtigte Zweifel. Zigfach wiederholt er zudem in seinen ausschweifenden Sätzen genau die Beleidigungen, die Gegenstand der Anklage gegen ihn sind und fügt neue hinzu: gegen den Staatsanwalt, gegen die Medien. Martin Links lässt alle diese Aussagen zu Protokoll nehmen.
Der Versuch des 75-Jährigen, sich selbst als Opfer darzustellen und im Besitz der unumstößlichen Wahrheit zu sein, scheitert jedoch. Und schließlich schiebt auch die Vorsitzende Richterin den ausschweifenden Ausführungen einen Riegel vor, konzentriert sich auf die drei eigentlichen Anklagepunkte und vertragt die den Prozess.
Nach sechseinhalb Stunden ist – vorerst – Schluss. Der Prozess wird am Freitag um 11 Uhr fortgesetzt. (Von Thorsten Becker)