Polizeistation soll während des Attentats vom 19. Februar in Hanau nicht erreichbar gewesen sein

Rund um den Terroranschlag vom 19. Februar 2020 in Hanau, bei dem der Attentäter Tobias Rathjen zehn Menschen – darunter seine Mutter – und anschließend sich selbst getötet hat, gibt es auch ein Jahr nach der Tat ungeklärte Fragen. Nach Recherchen von Spiegel-Online, dem Hessischen Rundfunk und dem ARD-Magazin Monitor, die nun veröffentlicht wurden, soll zum Tatzeitpunkt der polizeiliche Notruf überlastet und nicht ausreichend besetzt gewesen sein.
Hanau – Vili-Viorel Paun hatte versucht, den Täter aufzuhalten, verfolgte ihn im Auto bis zum zweiten Tatort – und wurde dort, auf dem Parkplatz der Arena Bar, von Rathjen erschossen. Von unterwegs soll Paun dreimal versucht haben, die Polizei anzurufen. Er sei nicht durchgekommen, schreibt der Spiegel, der sich auf die Ermittlungsakte der Bundesstaatsanwaltschaft beruft. In den letzten Monaten war bereits aus dem Kreis der Angehörigen der Vorwurf erhoben worden, die Polizei sei telefonisch nicht erreichbar gewesen. Der Spiegel-Bericht unterstreicht das nun.
Die Hanauer Polizei habe aufgrund der hohen Anzahl nicht alle Anrufe entgegennehmen können, so das Nachrichtenmagazin und bezieht sich auf einen Aktenvermerk. Die Notrufe seien in der Leitstelle der Polizeiwache Hanau 1 aufgelaufen und an lediglich zwei Arbeitsplätzen bearbeitet worden. Es habe „technische Störungen beim Mitschnitt“ gegeben, heißt es in dem Artikel weiter.
Der erste registrierte Anruf sei um 21.56 Uhr, etwa eine Minute, nachdem der Attentäter zu schießen begonnen hatte, der zweite fast gleichzeitig angenommen worden. Damit seien beide Apparate besetzt gewesen. Umgeleitet worden seien die Notrufe nicht. Die Anrufe von Vili-Viorel Paun seien ins Leere gelaufen. Auch später habe ihn niemand zurück gerufen.
Vorwürfe wurden am 27. Januar 2021 öffentlich
Auf Anfrage habe das Polizeipräsidium Südosthessen mitgeteilt, die Einsatzkräfte seien bereits um 21.58 Uhr an den ersten Tatort entsandt worden. Was die „Überforderung der Beamten in der Leitstelle“ angehe, so sei ein Überleitungskonzept geplant. In Zukunft sollen Notrufe nach Frankfurt umgeleitet werden.
Nach den gestern (27. Januar 2021) bekannt gewordenen Vorwürfen gegen die Polizei hat sich die Staatsanwaltschaft Hanau umgehend eingeschaltet. „Was den Komplex der vermeintlichen Nichterreichbarkeit des Polizei-Notrufs am 19. Februar 2020 anbetrifft, hat die Staatsanwaltschaft einen Prüfvorgang eingeleitet“, sagte Pressesprecher Dominik Mies auf Anfrage.
Der Polizeipräsident des Polizeipräsidiums Südosthessen, Eberhard Möller, wollte sich, mit Verweis auf eben diese justiziare Prüfung der Sachlage, gestern zu den Vorwürfen nicht äußern, machte aber im Gespräch mit unserer Zeitung deutlich: „Die Prüfung der Vorwürfe durch eine unabhängige Instanz empfinde ich als positiv.“
Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky reagiert auf die Vorwürfe
Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) indes betont das schnelle Handeln der Einsatzkräfte. Wichtig sei, dass in der Nacht die Polizei sehr unmittelbar an den Tatorten gewesen sei, sagte Beuth laut dpa der Sendung „17:30 SAT.1 Live“. Die Frage, wie die Notrufzentrale besetzt gewesen sei und wie viele Anrufe gelaufen seien, werde sicher der Generalbundesanwalt dann eben auch noch genauestens darlegen, so Beuth.
Als „Frage des politischen Anstands, endlich die Öffentlichkeit aufzuklären und politische Verantwortung zu übernehmen“, bezeichnet Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) die aufgekommenen Vorwürfe. Daneben sieht er auch die Justiz gefordert, zur Aufklärung beizutragen und Ermittlungen aufzunehmen.
Kaminsky, der schon mehrfach lückenlose Aufklärung gefordert hatte, will „angesichts der jetzt mutmaßlich bekanntgewordenen Umstände nicht länger hinnehmen, dass der hessische Innenminister im Innenausschuss die Polizeiarbeit im Zusammenhang mit dem rassistischen Anschlag uneingeschränkt lobt, andererseits die durch seriöse Medien recherchierten Vorgänge ein anderes Bild zeichnen. Was stimmt denn nun?“, fragt der Hanauer OB. Und er geht noch weiter: „Wäre Vili-Viorel Paun mit seinem Notruf erfolgreich gewesen, könnte er vielleicht noch leben.“
OB von Hanau schießt gegen den Innenminister
Kaminsky lässt keinen Zweifel daran, dass Rettungskräfte und Polizei in dieser Ausnahmesituation ihr Bestes gegeben haben. „Wenn dieses Beste aber aufgrund von mangelnder personeller Ausstattung oder organisatorischer Mängel an eine Grenze kommt, die dann im Zweifelsfall Menschenleben in Gefahr bringt, muss das bei dem politisch Verantwortlichen nicht nur Nachdenklichkeiten auslösen.“ Durch die schleppende Aufklärung und die vielen ungeklärten Fragen werde das Vertrauen der Angehörigen und vieler Bürger in das Handeln des Staats in Zweifel gezogen.
„Die Übernahme der politischen Verantwortung durch den hessischen Innenminister als Reaktion auf die vorgelegten Recherchen wäre nicht nur adäquat, sondern könnte auch einen Teil des verloren gegangenen Vertrauens zurückbringen“, erinnert Hanaus OB an den früheren Bundesinnenminister Rudolf Seiters, der nach einem umstrittenen Einsatz der GSG9 zurückgetreten war, obwohl er sich persönlich nichts hat zuschulden kommen lassen. Seiters hatte seinen Schritt als einen doppelten Akt der Schadensbegrenzung bezeichnet, der das Vertrauen der Bevölkerung in die Ermittlungsarbeit stärken sowie einen „langwierigen und unwürdigen Prozess der gegenseitigen Schuldzuweisungen“ unterbinden sollte. „Daran sollte sich der hessischen Innenminister ein Vorbild nehmen“, so Kaminsky.
Die Linke spricht in einer Stellungnahme von einem „Skandal“. Saadet Sönmez, integrationspolitische Sprecherin der Fraktion im Landtag und Jochen Dohn, der in Hanau für die Linke als Oberbürgermeister kandidiert, kündigen an, die schwarz-grüne Landesregierung nicht aus der Verantwortung entlassen zu wollen. „Wir werden an der Seite der Familien und der Opfer alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um zur Aufklärung der Widersprüche und Missstände beizutragen.“ Innenminister Beuth müsse offene Fragen rund um die Tat beantworten. „Ständig nur von der hervorragenden Polizeiarbeit in der Tatnacht zu sprechen, ist nach den derzeitigen Veröffentlichungen skandalös“, betont Sönmez.
Auch Stadtrat von Hanau äußerte sich
Nach wie vor ungeklärt ist auch der Umstand des Verschlossenen Notausgangs in der Arena Bar Laut Spiegel-Bericht sollen Polizeibeamte bereits im November 2017 im Rahmen einer Gaststättenkontrolle festgestellt haben, dass der Ausgang verschlossen war und diese Information dem Gewerbeamt der Stadt Hanau mitgeteilt haben. Dazu äußerte sich gestern Hanaus Stadtrat Thomas Morlock (FDP): Wegen des verschlossenen Notausgangs habe es durch die Gewerbeaufsicht des Ordnungsamts und die Polizei 2013 und einmal im November 2017 Beanstandungen gegenüber dem Betreiber gegeben. Weitere zahlreiche, regelmäßige Kontrollen – auch danach – hätten keine weiteren Hinweise mehr auf die verschlossene Fluchttür ergeben.
Dem damaligen Betreiber entzog die Stadt Hanau die Gaststätten-Konzession später wegen „anderer Vorwürfe“, so Morlock. Die juristische Auseinandersetzung darum führte bis zum Hessischen Verwaltungsgerichtshof, der dem Betreiber das Gewerbe untersagte. Der frühere Betreiber der Gaststätte meldete daraufhin sein Gewerbe zum Jahresende 2019 ab.
Zum 1. Januar 2020, also wenige Wochen vor dem Attentat, übernahm ein anderer Wirt die Arena Bar. „Hierbei handelt es sich um einen unbescholtenen Betreiber“, stellt Morlock heraus. Einer Konzession bedurfte er – im Unterschied zum jahrelangen vorherigen Wirt – nicht mehr, weil sich inzwischen die Gesetzeslage geändert hatte. Hinweise auf verschlossene Fluchtwege habe es für das Ordnungsamt seit November 2017, insbesondere aber zu Zeiten des neuen Betreibers im Jahr 2020, nicht gegeben. (Von Kerstin Biehl)