Auf dem Schlossplatz stehen am Mittwochmorgen Fahrzeuge von Polizei und Ordnungsamt. Rund um den Congress Park Hanau und im Gebäude patrouillieren dutzende Beamte. Das Amtsgericht tagt heute im Brüder-Grimm-Saal. Eigentlich findet hier nur ein Prozess wegen des Vorwurfs der Beleidigung statt – und doch ist es viel mehr als das, denn der Angeklagte heißt nicht Müller oder Meier. Nein, er trägt den Nachnamen des Mannes, der am 19. Februar 2020 neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordet hat, danach seine Mutter und im Anschluss sich selbst tötete. Der Vater eben jenes Attentäters soll in einer Anzeige und in zwei Schreiben an Behörden beleidigende Äußerungen getätigt haben – deshalb muss er sich vor Gericht verantworten.
Die Uhr zeigt 9.03 Uhr. Die Fotografen haben sich in Position gebracht. Rund ein Dutzend Zuschauer sind im Saal. Nur der Angeklagte fehlt. Amtsrichterin Judith Schlootz stellt fest, dass er trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen ist. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 74-Jährigen vor, im Januar 2021 in einer Strafanzeige mehrere Menschen als „wilde Fremde“ bezeichnet zu haben. Diese hätten zuvor in der Nähe seines Wohnhauses eine Mahnwache unter dem Motto „Wir warten nicht auf einen neuen rassistischen Anschlag“ abgehalten. Unter den Teilnehmern der Kundgebung waren auch mehrere Angehörige der Anschlagsopfer.
Die Kriminaloberkommissarin, die die Strafeinträge einholte, wird später bestätigen, dass sechs von neun Familien vor Ort waren. Sie alle unterschrieben die Strafanträge. In einem weiteren Fall geht es um ein Schreiben aus dem Januar 2021 an den Generalbundesanwalt, der bereits in der Tatnacht die Ermittlungen zu dem Attentat an sich gezogen hatte. In dem Schreiben soll der Mann ein Spezialeinsatzkommando aus Frankfurt, das unmittelbar nach dem Anschlag an seiner Wohnanschrift eingesetzt war, als „Terrorkommando“ beziehungsweise „Terroreinheit“ bezeichnet haben.
Schließlich soll er im Februar 2021 in einem Schreiben an das Amtsgericht Hanau den Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) unter anderem der „Wählertäuschung“ bezichtigt haben. Er wolle „großmäulig, überheblich glauben machen, er stünde hinter der Demokratie“. Die Betreffenden würden „vom Oberbürgermeister in einer typischen Art und Weise zu ihrem Nachteil missbraucht, vorgeführt und verführt“, hieß es laut Gericht in dem Schreiben.
15 Minuten gibt Richterin Schlootz dem Angeklagten, um doch noch zu erscheinen. Um 9.18 Uhr wird R. erneut aufgerufen. Erfolglos. Staatsanwalt Martin Links beantragt schließlich die Vorführung des Angeklagten. Dann beginnt das Warten. Um 11.10 Uhr betritt der 73-Jährige den Saal. Er hatte sich in seinem Haus eingeschlossen. Die Polizei sei gewaltsam eingedrungen, er habe im Bett gelegen, wird R. später empört zu Protokoll geben.
Der Angeklagte, flankiert von zwei Polizisten, trägt Handschellen. Er steuert den Zeugenplatz an, wird von zwei Beamten zum Tisch seines Pflichtverteidigers Andreas Winter delegiert vorbei an den Kameraleuten und Fotografen. Im Stehen verfolgt der Mann mit dem wirren weißen Haar die komplette Verhandlung. Holzfällerhemd, grüne Hose mit aufgesetzten Taschen, eine silberne Taschenkette, schwarze Pantoffeln: Der Gerichtssaal ist seine Bühne, seine Plattform. Er läuft hin und her vor der Richterin, sagt, er könne schlecht hören, seit ihm ein Polizist in der Nacht des Attentats auf den Kopf getreten habe. „Können Sie mich verstehen?“, fragt der Staatsanwalt. „Nein, das kann ich nicht“, entgegnet R. und verrät sich damit selbst.
Am Abend vor der Verhandlung habe er einen Befangenheitsantrag gegen die Richterin per Fax ans Gericht geschickt. Die unterbricht die Sitzung erneut. Die Überprüfung ergibt, dass bei den Poststellen nichts eingegangen ist. Reihenweise hatte der Angeklagte, der schon vor Jahren umfangreiche Schriftsätze wegen Ruhestörung an die Stadt gesendet hatte, die Justiz im Frühjahr und Sommer bereits mit Befangenheitsanträgen überzogen. Er betitelt Richterinnen als „Sandkastenfreundinnen. Staatsanwalt Links nennt es „eine Demonstration allgemeinen Misstrauens“, ein „Muster“. Der 74-Jährige hört zu, die Arme verschränkt.
In den Schriften, die Schlootz später verliest (R.: „Ich lege Wert darauf, dass das komplett vorgelesen wird.“), schreibt der 74-Jährige von der deutschen Rasse, vom deutschen Volk, von Fremden in seinem Land, davon, dass die Polizei bei der Mahnwache am 29. Dezember 2020 Bildmaterial für die Presse provoziert habe. Immer wieder bemüht er das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, beklagt die Verunglimpfung seines verstorbenen Sohnes und seiner verstorbenen Frau. Die seien vom SEK ermordet und mit ihrer Einäscherung Beweismittel vernichtet worden. Sein Sohn, schreibt er in seinen seitenlangen Pamphleten, habe die neun Menschen nicht ermordet. Angaben macht R. weder zu den Beleidigungen, noch zu seiner Person, nennt das Verfahren „kein faires“, „kein rechtsstaatliches“. Man wolle ihn verleumden, finanziell ruinieren.
Warum das Verfahren, so ein Aufwand? Weil, so Oberstaatsanwalt Dominik Mies am Rande der Verhandlung, auf Grundlage der Schriftsätze eine verminderte Schuldfähigkeit nicht auszuschließen sei. „Deshalb das Verfahren unter Einbindung eines forensischen Gutachters.“
Üble Nachrede, Nötigung, Bedrohung, Nachstellung, Blutrache - all das thematisiert der Angeklagte in seinen Anzeigen. Er besteht schließlich auf einer Flasche Wasser, ungeöffnet, kein Becher, damit die Polizisten ihm „kein Mittel reintun können“. Die Vorwürfe, die R. zum Vorgehen des SEK in der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 2020 vorgebracht hat, werden laut Mies gesondert ermittelt.
Auch Newroz Duman von der Initiative 19. Februar ist im Saal. Sie will sehen, was hier passiert. In einer Pause spricht R. sie direkt. Er kenne sie aus der Presse. Ob sie gut zugehört habe, will er wissen. Dann kommen Beamte dazu, holen ihn von Duman weg. „Es hat sich wie eine Bedrohung angefühlt“, sagt sie auf Nachfrage unserer Zeitung.
Kurz nach 16 Uhr: Der forensische Sachverständige, der sein Gutachten auf Basis der Beobachtungen am Verhandlungstag und nach Durchsicht von R.s Anzeigen erstellt hat, attestiert dem Angeklagten eine wahnhafte Störung, aber keine Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten, was seine Schuldfähigkeit unterstreicht. Die Beleidigungen entspringen, so der Sachverständige, einem rechtsextremen Gedankengut. Jeder könne bei dieser Denkweise zum Feind werden. R. sei völlig empathielos und zudem von Verschwörungstheorien geleitet. Das Wort Kampfparanoia fällt.
Erst gegen 18 Uhr endet Staatsanwalt Links mit seinem Plädoyer. Er bezeichnet das rassistische Agieren in schriftlicher Form als strafschärfend und fordert eine Geldstrafe von 11 700 Euro. Links nennt R. einen „einsamen Mann, der am Computer sitzt“ und Schreiben für Schreiben fertig.
In den Schreiben gebe es keine inhaltliche Auseinandersetzung, sie beinhalten lediglich eine Herabsetzung aller, die R.s Unwillen auf sich gezogen haben. Der Angeklagte vertrete eine rechtsextremistische Ideologie, provoziere. Links: „Ihre Schreiben sind darauf angelegt, eine Bevölkerung zu spalten.“
Der Pflichtverteidiger verweist auf Sachschäden am Haus von R., der Angeklagte redet in seinem letzten Wort fast eine Stunde lang. Um 18.53 Uhr zieht Richterin Schlootz einen Schlussstrich unter diesen Tag: Alle im Saal erheben sich. Sofort nach den ersten Sätzen des Schuldspruchs verlässt R. den Saal. Die Urteilsbegründung ignoriert er. (Yvonne Backhaus-Arnold)
Der Terror in Hanau ist auch über eineinhalb Jahre nach der Tat noch allgegenwärtig. Vor kurzem haben Angehörige der Opfer des Attentats in Hanau den Aachener Friedenspreis für ihr Engagement gegen Rassismus erhalten.
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