Nach Terror in Hanau: Opfer-Angehörige kämpft gegen Rassismus

In Hanau engagiert sich Serpil Unvar gegen institutionellen Rassismus - mit einer Bildungsinitiative, die sie nach ihrem Sohn Ferhat benannt hat.
Hanau - Eigentlich hatte sie geplant, vor dem 19. Februar nicht so viel zu sprechen. „Ich bin auch nur ein Mensch“, sagt Serpil Temiz Unvar. Sie sitzt an einem Tisch im Haus der Bildungsinitiative am Freiheitsplatz in Hanau und rührt in ihrem schwarzen Tee. Einhalten konnte sie ihren Vorsatz dann doch nicht, ständig klingelt bei ihr das Telefon. Frankfurter Rundschau, RTL – alle wollen mit Unvar reden.
„Denen, die nur vor dem Jahrestag was von mir wissen wollen, sage ich ab – wir spielen hier kein Theater. Es geht nicht nur um einen Tag.“ Der Tag, den Unvar meint, das ist der 19. Februar 2020. Damals ermordet ein Rechtsextremist in der Arena-Bar am Kesselstädter Kurt-Schumacher-Platz ihren Sohn Ferhat. Er wird gerade einmal 23 Jahre alt. An Ferhats 24. Geburtstag ruft Unvar die Bildungsinitiative ins Leben, benennt sie nach ihm.
Lange Zeit hat die Kurdin, die in den 1990ern nach Deutschland gekommen ist, als Journalistin gearbeitet. Bis zum Tod von Ferhat schreibt sie für eine kurdische Zeitung: „Ich hatte Spaß daran, zu recherchieren, meine Meinung zu sagen, das war auch eine gesellschaftliche Arbeit. Etwas für die Gemeinschaft zu machen, tut gut.“ Die 47-Jährige ist alleinerziehend, neben Ferhat hat sie drei weitere Kinder. Ihr jüngster Sohn kommt gerade in den Raum der Bildungsinitiative, durch die vielen Fenster scheint das Nachmittagslicht auf sein Gesicht. Nachher will er zum Fußballtraining.
Hanau: Bildungsinitiative bietet Anti-Rassismus-Workshops an
Wenn sie über ihre Zeit im Journalismus nachdenkt, sieht Unvar aber auch eine Trennlinie zu dem, was jetzt ist. „Was wir mit der Bildungsinitiative machen, das ist für die gesamte Gesellschaft, für alle Jugendlichen. Nicht nur Kurden, Türken oder Afghanen. Wir wollen die Zukunft gestalten, mit ganz verschiedenen Perspektiven.“
Die Initiative bietet Workshops zu Anti-Rassismus und Anti-Diskriminierung an, fördert Empowerment. Für Schulklassen, aber auch Lehrer und Eltern. 60 Kurse hat die Initiative im vergangenen Jahr gegeben. Waren es am Anfang ehrenamtliche Helfer, arbeiten jetzt zusätzlich fünf Mitarbeiter für die Stiftung, finanziert mit Spenden und Mitteln des Landes.
Eren Okcu ist Referent bei der Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Er sagt: „Serpil macht als Opfer-Angehörige gerade das, was unser Schulsystem erledigen sollte. Die Bildungsinitiative deckt eine Lücke ab, die eigentlich der Staat zu füllen hätte.“ Unvar ergänzt: „Für mich ist es überhaupt nicht leicht, mich jeden Tag mit diesem Thema zu beschäftigen.“ Sie weiß aber: Sie muss das tun, nicht weil sie will, sondern weil Veränderung gebraucht wird.
Nach Terror in Hanau: Opfer-Angehörige wohnt noch immer unweit vom Tatort
Dass sie sich gezielt gegen den institutionellen Rassismus an Schulen einsetzt, fußt schließlich vor allem auf ihren persönlichen Erlebnissen, und denen von Ferhat - als Kind mit Migrationshintergrund kämpfte der Junge oft mit Diskriminierung, schrieb Gedichte, die diese Zeit verarbeiteten. Die Arbeit mit der Stiftung, damit hält Unvar das Andenken ihres Sohnes am Leben. Ob sie es jetzt, kurz vor seinem Todestag, schafft innezuhalten? „Nein, das bekomme ich nicht hin“, meint Unvar. Sie schiebt ihre Hände unter die Brille, massiert ihre Augen mit den Fingern. Auf ihrem grauen Pullover prangt das Gesicht ihres Sohnes.
Vor dem Jahrestag zählt sie die Tage, die Stunden runter, die Ferhat bis zum 19. Februar noch zu leben hatte, erzählte sie kürzlich in einem Interview. Vergangenes Jahr nahm sie am 19. Februar drei Schlaftabletten, einfach nur, um in dem Moment nicht präsent zu sein, in dem er gehen musste. Sie blieb dann aber wach. Noch immer wohnt sie mit ihren Kindern in Hanau-Kesselstadt, unweit des Tatorts, unweit vom Haus des Täters. „Wie schaffen wir es, dort zu bleiben? Ich kann mir auf diese Frage selbst keine Antwort geben“, sagt Unvar.
Noch immer lebt dort auch der 75-jährige Vater des Mannes, der am 19. Februar zehn Menschen und sich selbst erschoss. „Der Vater ist gefährlich, wie sein Sohn, nicht nur ein einfacher alter Mann“, berichtet Unvar. Er bedroht Kinder am Schulzaun, kreuzt mit seinem Hund vor Unvars Küchenfenster auf. Mittlerweile muss er mindestens 30 Meter Abstand zu ihr halten, das ist gerichtlich verfügt.
Nach Terror in Hanau: Attentäter-Vater macht „Psychoterror“
„Momentan steht bei uns die Polizei vor der Tür, wie lange das noch geht, weiß ich nicht. Normal ist das aber überhaupt nicht“, sagt Unvar. Und: „Da ist nicht nur die physische Bedrohung, er macht auch Psychoterror. Wir brauchen doch gesunde Jugendliche. Grundschulkinder sollten sich nicht mit solchen Sachen beschäftigen müssen. Wenn jetzt irgendwas passiert: Welche Antwort können sie uns dann noch geben?“
Trotzdem sind da auch die Momente, die Hoffnung machen. Vergangene Woche fuhr Unvar mit der Bildungsinitiative nach Berlin. Im Deutschen Theater stellten Schüler aus ganz Deutschland Szenen nach, in denen sie sich mit Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus auseinandersetzten - eine Form der Selbstermächtigung. Unvar streicht über ihren angeknacksten Handy-Bildschirm, zeigt Fotos, wie sie mit den Schülern auf der Bühne steht. „Die Jugendlichen wollen wirklich einen Wandel. Das habe ich in Berlin deutlich gesehen. Es war emotional, das hat uns Kraft gegeben.“
Ein Bild zeigt sie neben Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Unvar muss lächeln. „Wie eine Tante, hat der Moderator gemeint“. Doch dann hebt sie wieder ihre Stimme. „Ich habe mit ihr auch über unser Mahnmal geredet. Nach der Wahlperiode möchte sie uns besuchen. Einige in Hanau wollen nicht, dass wir ein sichtbares Denkmal bekommen. Sie wollen nicht sehen. Na und? Ich wollte auch nicht, dass jemand mein Kind tötet. Bedeutet das, wir sollen in irgendeine Ecke? Dann beginnt das Vergessen. Wir brauchen eine lebendige, verbindende Erinnerungskultur.“ Die versucht die Initiative vor dem Jahrestag vorzuleben. So besuchte die Initiative die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, für einen Gedenkabend.
Serpil Unvar in Hanau: „So lange ich lebe, vergisst keiner diese Tat“
Und dann ist da noch der Sonntag, der 19. Nach dem Gespräch an diesem Nachmittag bringen Helfer Plakate und Banner im Haus der Initiative vorbei, für die Demo auf dem Marktplatz.
„Es werden keine Politiker reden. Nur Angehörige und Jugendliche.“ Trotz des Stress, trotz der Hektik, blickt Serpil Unvar schon nach vorne. „So lange ich lebe, sorge ich dafür, dass keiner diese Tat vergisst.“ Künftig möchte sie die Bildungsinitiative international vernetzen, mit Menschen, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben wie sie selbst. Im März plant sie, nach Griechenland zu fliegen, um sich mit der Mutter von Pavlos Fyssas zu treffen – einem Musiker, der von Neo-Faschisten getötet wurde. Für Unvar steht fest: „Ich bleibe dran.“ (Von Julius Fastnacht)