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Terror in Hanau: Fehlendes Personal und Notruf beschäftigen Abgeordnete

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Von: Yvonne Backhaus-Arnold

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„Die Situation war nicht hinnehmbar“: In der Dienststelle Hanau I am Freiheitsplatz fehlte über Jahre Personal. Die Leitung thematisierte dies mehrfach, auch schriftlich – nichts geschah. archiv
„Die Situation war nicht hinnehmbar“: In der Dienststelle Hanau I am Freiheitsplatz fehlte über Jahre Personal. Die Leitung thematisierte dies mehrfach, auch schriftlich – nichts geschah. archiv © Dagmar Gärtner

Warum war der Notruf in der Terrornacht von Hanau nicht erreichbar? Zwei Zeugen geben dem Untersuchungsausschuss Einblick in ihre Sichtweise.

Wiesbaden/Hanau – Mehr als zweieinhalb Stunden dauert die Befragung des ersten Zeugen am Montagmorgen (04. Juli) im Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags zu den fremdenfeindlichen Morden vom 19. Februar 2020. Es geht um den nicht erreichbaren Notruf in der Tatnacht und um die Frage, wer wann davon wusste, und ob die Mängel behoben wurden. Hatte Innenminister Peter Beuth (CDU) Kenntnis? Hätte der Tod des 22-jährigen Vili-Viorel Paun verhindert werden können?

Der Erste Polizeihauptkommissar, der an diesem Morgen aussagt, erscheint in Uniform. 2018 bis 2019 war er Leiter der Dienststelle Hanau I. Zuvor hatte er auf der Wache am Freiheitsplatz ab Ende der 1990er Jahre verschiedene Funktionen inne, beispielsweise als Dienstgruppenleiter. Die Aussagen des 54-Jährigen, der in der Tatnacht selbst nicht im Einsatz war, sind auch in den 24-seitigen Abschlussbericht der Hanauer Staatsanwaltschaft eingeflossen, die bei ihrer Vorermittlung zum Thema Notrufversagen jahrelanges Nicht-Handeln der polizeilichen und politischen Führung trotz angezeigter Mängel der Beamten vor Ort festgestellt hatte.

Hanauer Untersuchungsausschus: „Wenn dann noch im Gewahrsam ein Insasse klingelt, ist das Chaos perfekt“

Am 29. Januar 2019 brachte der damalige Dienststellenleiter ein Schreiben auf den Weg, in dem er auf die Probleme im Zusammenhang mit der Belastung der Wache aufmerksam machte. Darin heißt es: „Der Wechsel- oder Wachschichtdienst übernimmt zusammenfassend die Aufgaben des Wachgeschäftes, teilweise der Pforte, des Zentralgewahrsams, der Anzeigenaufnahme sowie der Entgegennahme der Notrufe. Es wird bei einer Mindestwachstärke versucht, drei Streifen einzuteilen, was wiederum bedeutet, dass der Dienstgruppenleiter permanent mitfährt. Dies führt dazu, dass ein Beamter auf der Wache sitzt, während alle drei Streifen außerhalb der Wache die Anrufe abarbeiten. Nicht selten klingeln beide Notrufapparate gleichzeitig, es stehen Funkgespräche an, und im Foyer stehen mehrere Besucher vor einer leeren Loge. Wenn dann noch im Gewahrsam ein Insasse klingelt, weil er beispielsweise auf die Toilette muss, ist das Chaos perfekt.“

Die Situation, sagt der Zeuge, sei nicht hinnehmbar gewesen. Sein Schreiben ging an seinen direkten Vorgesetzten Jürgen Fehler, den Leiter der Polizeidirektion Main-Kinzig. Er befürwortete den Antrag auf personelle Verstärkung der Wache und leitete ihn an die Abteilung Einsatz im Polizeipräsidium Südosthessen weiter, dessen damaliger Präsident Roland Ullmann, der heutige Landespolizeipräsident, war. Ob die Beschwerde über seinen Tisch ging, will Saadet Sönmez (Die Linke) wissen? „Mutmaßung“, ruft der CDU-Abgeordnete Jörg Michael Müller. Der Erste Polizeihauptkommissar schüttelt den Kopf. Er wisse nicht, ob es auf Abteilungsleiterebene Gespräche hierzu gab. Ullmann, der wie Fehler am 18. Juli vor den letzten U-Ausschuss vor der Sommerpause geladen ist, wird sich der Frage dort sicher stellen müssen.

Terror in Hanau: Vili-Viorel Paun versucht vergeblich Notruf zu erreichen

Die Antwort der Abteilung Einsatz fiel 2019 jedenfalls eindeutig aus. Eine Festzuweisung, also mehr Beamte in Hanau, sei nicht möglich. Die Kollegen hätten sich intern organisiert, versucht, das Beste aus der Situation zu machen, sagt der 54-Jährige. Verstärkung ist für diesen Sommer angekündigt.

Zu spät, sagen die Eltern von Vili-Viorel Paun. Der Attentäter hatte während seiner Flucht vom ersten Tatort am Heumarkt zum Kanaltorplatz auf Paun geschossen und dabei dessen Auto getroffen. Der 22-Jährige nahm die Verfolgung auf und hatte dreimal vergeblich versucht, die Polizei über den Notruf 110 zu erreichen. Am Kurt-Schumacher Platz wurde Paun dann in seinem Wagen von dem Attentäter erschossen. Pauns Vater hatte gegen die eingesetzten Beamten Strafanzeige wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung erstattet, weil der Notruf der Wache nicht richtig funktioniert habe.

Die Ursache für die Mängel liegt Jahre zurück. Die ersten Beschwerden sind seit der von der Landesregierung beschlossenen Zusammenlegung der beiden einst selbstständigen Polizeibehörden in Hanau und Offenbach zum Kunstnamen „Polizeipräsidium Südosthessen“ aufgetreten. Aus zwei Führungs- und Lagediensten, die rund um die Uhr besetzt sind, wurde einer. In Offenbach. Die Zentrale im oberen Stockwerk des Polizeihochhauses am Freiheitsplatz wurde daher dichtgemacht. Die Notrufleitungen wurden nicht, wie sonst üblich, in die Zentrale nach Offenbach, sondern einfach auf die Polizeistation Hanau-Stadt im Erdgeschoss umgeleitet. Somit war eine einzige Polizeistation für die Entgegennahme der Notrufe aus dem gesamten Altkreis Hanau mit rund 200 000 Einwohnern zuständig. (wir berichteten).

Terror in Hanau: Immer wieder Beschwerden über schlechte Erreichbarkeit beim Notruf

Beschwerden gab es seit 2002 immer wieder, die des Ersten Polizeihauptkommissars von Januar 2019, knapp ein Jahr vor dem Attentat, war die letzte. Passiert ist in all den Jahren jedoch nichts. Die Weiterleitung der Notrufe in die Zentrale wurde schließlich doch eingerichtet, Monate nach dem Attentat und vor dem Bezug des Neubaus in Offenbach, dabei hieß es zuvor immer, dass eine Funkzentrale im alten Gebäude nicht darstellbar sei. Innenminister Beuth hatte im Februar 2021 im Innenausschuss erklärt, dass in der Tatnacht beide Notrufplätze besetzt waren. Eine Lüge, denn nachweislich war nur ein Platz besetzt, alle anderen Kollegen draußen.

Hätte der Tod von Paun verhindert werden können, wenn er den Notruf erreicht hätte? „Ich glaube nicht“, sagt der Zeuge. Überhaupt könnten in einer solchen Ausnahmesituation nie alle Notrufe entgegengenommen werden. Dabei sind sie wichtig, um so viele Informationen wie möglich über den Täter zu sammeln, ihn zu stoppen. Dennoch, so der 54-Jährige, hätte die Besetzung des zweiten Notrufplatzes für ihn hinten angestanden. Es sei wichtiger „alles rauszuschicken, was laufen kann“. Die Umstellung des Täterhauses hat erst drei Stunden nach den ersten Schüssen stattgefunden.

Hanauer Untersuchungsausschus: „Aus meiner Sicht bestand seit 2002 Handlungsbedarf“

Der zweite Zeuge, der Hanauer Staatsanwalt Martin Links, drückte zunächst seine Anteilnahme aus. Dann machte er deutlich, dass es beim Notruf Anhaltspunkte für ein Organisationsverschulden gibt. „Aus meiner Sicht bestand seit 2002 Handlungsbedarf“, so Links. Während alle anderen hessischen Polizeipräsidien einen „Notrufüberlauf“– eine Weiterleitung bei hohem Anrufaufkommen – eingeführt und ihre Systeme modernisiert hatten, habe Hanau mit nur zwei Annahmeplätzen „hinterhergehinkt“, trotz wiederholter Vorstöße der Dienststellenleitung etwa bei der Polizeidirektion. Für ein Geschehen wie im Februar 2020 sei die Infrastruktur vollkommen unzureichend gewesen.

Auch weil während des ersten Notrufs am Tatabend lediglich zwei Beamte und ein Praktikant auf der Wache waren, hätten sie sich „in einem Dilemma“ befunden, sagte Links. Rausfahren und den Täter bekämpfen, oder bleiben und Anrufe entgegennehmen? Dass zwei Kräfte rausgingen, sei nachvollziehbar und auch im Hinblick auf die Dienstvorschriften nicht zu beanstanden.

Terror in Hanau: Zeit für Polizei hätte laut Zeugenaussage nicht gereicht

Gleichzeitig wies Links Kritik daran, dass die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung ablehnte, entschieden zurück: So sei es ausgeschlossen, dass die Morde in der Arena-Bar hätten verhindert werden können, wenn Paun bei seinem ersten Anruf um 21.57 Uhr und 54 Sekunden durchgekommen wäre. Selbst wenn der verständigten Polizei eine Minute Zeit geblieben wäre, was eine optimistische Annahme sei, hätte dies nicht gereicht, so Links. Beim ersten Sichten der Aufnahmen der Überwachungskameras sei er „schockiert“ darüber gewesen, wie schnell der Täter gemordet habe. Der gesamte Anschlag habe nur knapp fünf Minuten gedauert.

Die Frage, ob Paun bei einem besseren Notrufsystem noch leben würde, lasse sich nicht sicher beantworten – weshalb kein hinreichender Tatverdacht bestehe, erklärte Links. Er argumentierte etwa damit, dass nicht sicher sei, ob der 22-Jährige Hinweisen, dem Schützen nicht hinterherzufahren, gefolgt wäre. Das habe nichts mit Zynismus oder Vorwürfen gegenüber dem Opfer zu tun, betonte der Zeuge. Er könne jedoch nicht ausblenden, dass Paun die Verfolgung trotz mehrerer Schüsse auf sein Auto nicht abgebrochen habe. Damit wolle er nicht sagen, dass Paun Warnungen ignoriert hätte. Aber es sei eben ungewiss. (Yvonne Backhaus-Arnold und Gregor Haschnik)

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