Wenn die Großbaustelle zum „Selbstbedienungsladen“ für Diebe wird

Meldung der Polizei vom 21. März. „Auf zwei Baustellen in der Brüder-Grimm-Straße kam es unlängst zu mehreren Diebstählen.“ Meldung der Polizei vom 17. März: „Baustellendiebe waren in der Nacht zum Mittwoch in der Brüder-Grimm-Straße in einen Rohbau eingedrungen.“ Meldung der Polizei vom 15. März: „Diebe stahlen am Wochenende in der Brüder-Grimm-Straße von einer Großbaustelle überwiegend Stromkabel.“ Allein diese Fälle innerhalb weniger Tage zeigen: Das Großbauprojekt in der Nähe der Zeichenakademie, in dessen Rahmen derzeit 190 Wohnungen entstehen, hat eine hohe Anziehungskraft auf Diebe. Doch wer sind die Täter?
Hanau – Die drei Vorfälle aus dem März sind längst nicht die einzigen. Insgesamt wurden seit Jahresbeginn sieben Diebstähle von der Baustelle an der Brüder-Grimm-Straße gemeldet, wie die Polizei auf Nachfrage unserer Zeitung mitteilt.
Bei fünf davon handele es sich um klassische schwere Diebstähle aus Rohbauten – die Polizei spricht selbst von einer Serie –, bei denen vor allem Kabel aus kostbarem Kupfer das Ziel sind. Die anderen zwei passten aufgrund des Stehlguts nicht in das herkömmliche Schema: Einmal ließen Unbekannte Baustellenschilder mitgehen, im anderen Fall wurden 80 Liter Diesel aus einem abgestellten Firmen-Lkw abgezapft. Womöglich eine Auswirkung der gestiegenen Kraftstoffpreise.
Hanau: Baustellendiebe sind professionell vorbereitet
Die Täter kommen in der Regel in den Abend beziehungsweise Nachtstunden. Sie sind gut vorbereitet, haben Fahrzeuge zum schnellen Abtransport dabei. Im Fall der gestohlenen Schilder wurden sie sogar von Arbeitern beobachtet, die noch auf der Baustelle zu tun hatten. Die Polizei erhofft sich jedes Mal Informationen von Zeugen, und einzelne Hinweise liegen auch tatsächlich vor, wie die Pressestelle des Polizeipräsidiums Südosthessen mitteilt. „Da es sich jedoch um laufende Ermittlungsverfahren handelt, können wir derzeit aus Gründen der Ermittlungstaktik keine detaillierteren Angaben machen“, heißt es dazu.
Die Chancen, das Werkzeug oder Baumaterial wiederzubekommen und die Diebe dingfest zu machen, sind überschaubar. Laut Pressestelle lag die Aufklärungsquote im Jahr 2020 bei solchen Delikten, bezogen auf einfache und schwere Diebstähle, im Main-Kinzig-Kreis im Jahr 2021 bei 10,7 Prozent. Im gesamten Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums, also zusätzlich in Stadt und Kreis Offenbach, lag sie etwas niedriger, bei 7,9 Prozent (2020: 7,4 Prozent).
Für die Baufirmen bedeuten diese Diebstähle Ärger in mehrfacher Hinsicht, oft sind damit Verzögerungen verbunden, wenn benötigte Baumaterialien fehlen. Der Zeitverlust kann sogar noch gravierendere Auswirkungen haben, etwa wenn Spezialwerkzeug entwendet wird, das rar und damit schwer zu bekommen ist. Eine Lösung dagegen sind GPS-Ortungssysteme, die in den Fahrzeugen eingebaut sind. So besteht zumindest theoretisch die Möglichkeit, den abhandengekommenen Spezialbagger wiederzufinden.
Was die Überwachungssicherheit auf der Baustelle betrifft, hätte unsere Zeitung auch gerne den Investor S+S Grundbesitz GmbH aus Marburg gehört, der den Wohnpark Brüder-Grimm-Straße baut und an die Nassauische Heimstätte verkauft hat. Allerdings blieb eine mehrmalige Anfrage unsererseits unbeantwortet.
Bauarbeiter haben oft geringen Verdienst: Sind die Diebstähle ein zweites finanzielles Standbein?
Aber wer steckt hinter den Baustellendiebstählen? Die Erfahrungen aus diesem Deliktsbereich lassen sich laut Polizei in mehreren Punkten zusammenfassen. Aufgrund der Struktur und dem Prozedere von solchen Bauprojekten (Ausschreibungsverfahren) der vergangenen 15 Jahre liege auf der Hand, dass die Arbeiten vor Ort in vielen Fällen über Subfirmen immer weitergegeben werden. „Hier liegt der Verdienst bei dem Arbeiter vor Ort am Ende in einem so geringen Bereich, dass die Versuchung groß scheint, sich eben hier anderweitig ein anderes Standbein zu schaffen“, lautet die Einschätzung der Ermittler. Dies sei jedoch ein „politisches und kein polizeiliches Problem“.
Speziell bei der Diebstahlserie in Hanau müsse von organisiertem Vorgehen ausgegangen werden. „Das Stehlgut und auch die Menge sowie der Umfang lassen nur den Schluss zu, dass hier baustellenerfahrene Täter in Betracht kommen. Diese kommen sehr häufig aus dem südosteuropäischen Raum und beziehungsweise oder aus dem Bereich ‘Schwarzarbeit’ – denn das Stehlgut muss auch organisiert weiter verbaut werden, ohne groß aufzufallen“, so die Beamten.
Ein weiterer Aspekt könnte auch sein, „fabrikneues Stehlgut“ im Internet zu veräußern, „aber diese Annahme scheint derzeit aufgrund des verfolgbaren Entdeckungsrisikos nicht zuzutreffen“.