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„Müssen raus aus Katastrophenmodus“: Landrat beklagt Notlage bei Flüchtlingsunterbringung

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Schildern im Interview die Notlage: Erste Kreisbeigeordnete Susanne Simmler (rechts) und Landrat Thorsten Stolz im Gespräch mit den HA-Redakteuren Yvonne Backhaus-Arnold und Holger Weber-Stoppacher.
Schildern im Interview die Notlage: Erste Kreisbeigeordnete Susanne Simmler (rechts) und Landrat Thorsten Stolz im Gespräch mit den HA-Redakteuren Yvonne Backhaus-Arnold und Holger Weber-Stoppacher. © Lisa Mariella löw

Landrat und Erste Kreisbeigeordnete des Main-Kinzig-Kreises fordern im Interview mehr Geld von Bund und Land und eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge.

Main-Kinzig-Kreis. Die Unterbringung von Geflüchteten verlangt den Kommunen derzeit alles ab. Allein im Main-Kinzig-Kreis sind in den vergangenen 14 Monaten mit rund 10 .400 Menschen aus der Ukraine sowie Drittstaaten so viele Menschen angekommen wie insgesamt in der Kurstadt Bad Orb leben. Die Unterbringung von Geflüchteten und Asylsuchenden sei aus organisatorischer, logistischer, finanzieller und personeller Hinsicht zurzeit die zentrale Kraftanstrengung auf der kommunalen Ebene, sagen Landrat Thorsten Stolz und Erste Kreisbeigeordnete Susanne Simmler (beide SPD) beim Interviewtermin in der Redaktion des Hanauer Anzeigers.

Die beiden Kreispolitiker gehören zur Speerspitze einer Bewegung, die sich gegen die ihrer Ansicht nach mangelnde finanzielle Unterstützung von Bund und Land sowie einen ungerechten Verteilungsschlüssel für die Zuweisung von Flüchtlingen wehrt. Sie gehören auch zu den Verfassern eines 13 Punkte umfassenden Forderungskatalogs.

Landrat Stolz: „Kann nicht sein, dass wir am Ende noch unserem Geld hinterherrennen“

Was fordern Sie von Bund und Land?

Stolz: Wir wollen, dass die Verantwortlichen von Bund und Land endlich einen realistischen Blick für die Dinge entwickeln. Wir brauchen eine direkte Unterstützung und Hilfe bei der Unterbringung, Logistik und der Organisation und natürlich eine finanzielle Rückenstärkung. Die Unterbringung von Flüchtlingen wird nicht in Wiesbaden oder Berlin gestemmt, sondern von der kommunalen Familie. Es kann nicht sein, dass wir am Ende noch unserem Geld hinterherrennen wie die allerletzten Bittsteller.

Simmler: Die Kommunen haben nicht nur selber immense Ausgaben für die Unterbringung von Geflüchteten, sondern sie müssen dann auch noch zu einem großen Teil unsere Ausgaben mittilgen. Unser Haushalt speist sich ja durch die Schlüsselzuweisungen des Landes, aber auch über die Kreisumlage der Kommunen. Deshalb erwarte ich eigentlich von jedem, der im Land und im Bund Verantwortung trägt, mehr Verständnis für die kommunale Ebene und eine Kommunikation auf Augenhöhe.

Geld ist das eine, was müssen Bund und Land noch tun?

Simmler: In vielen Bereichen der Integration müssten das Land beziehungsweise der Bund die Standards senken und pragmatisches Vorgehen zulassen. Stichwort Kinderbetreuung: Warum dürfen ukrainische Mütter nicht auch ukrainische Kinder betreuen? Die Vorgaben sind zu weit weg von dem, was die Bürger zwischen Sinntal und Maintal bewegt.

Stolz: Wir müssen raus aus diesem Katastrophenmodus. Momentan geht es rein um die Unterbringung und die Versorgung. Wir sind weit davon entfernt, dass wir uns um die Integration der Menschen kümmern können. Sprache, Integration in den Arbeitsmarkt, das alles müsste viel schneller und unbürokratischer geschehen. Das liegt aber nicht an uns, sondern wieder an den Regelungen des Bundes.

Simmler: Wir dürfen für Menschen aus der Ukraine, die jetzt im SGB II sind, noch nicht einmal Sprachkurse organisieren. Das ist uns verboten. Dieses Instrument sieht das SGB II nicht vor. Es heißt: Das könnt ja ihr Kommunalen machen. Es sind am Ende Ausgaben, die an uns hängen bleiben, weil wir sehen, dass Sprache der Schlüssel zu allem Weiteren ist. Wir müssen doch dafür Sorge tragen, dass sich die Menschen in ihrer Gemeinde oder im Sportverein verständigen können, vom Arbeitsplatz ganz zu schweigen.

Main-Kinzig-Kreis: Landrat nimmt Bund in die Pflicht

Sie sind mit Ihren Forderungen derzeit medial sehr präsent. Ein steter Tropfen höhlt also den Stein?

Stolz: Ja, genau. Dass wir uns andauernd zu Wort melden, hat beispielsweise dazu geführt, dass 2022 die Bundeserstattung in einem größeren Umfang durch das Land Hessen an die kommunale Familie weitergeleitet wurde, als es ursprünglich geplant war. Das waren über zwei Milliarden Euro. Eigentlich wollte das Land nur 50 Prozent weitergeben, nachdem wir dann Sturm gelaufen sind, bewegen wir uns jetzt wenigstens in Richtung 75 Prozent.

Mit den heimischen CDU-Landtagsabgeordneten …

Stolz: … sind wir im Gespräch. Aber keiner von denen konnte uns bisher entscheidend weiterhelfen. Im Gegenteil: Sie wollen uns dann erklären, dass die Zahlen richtig sind. Das wissen wir, aber uns geht es ja um die ungerechte Verteilung.

Ihre Parteifreundin Nancy Faeser hat als Bundesinnenministerin großen Einfluss auf das Thema. Haben Sie mir ihr gesprochen?

Stolz: Ja, wir äußern unsere Kritik parteiübergreifend. Wir erwarten, dass der Bund eigene Aufnahme- und Unterbringungskapazitäten schafft ...

Simmler: ... damit Menschen ohne Bleibeperspektive gar nicht erst zu uns kommen. Die langen Verfahren sind ein Grund, warum wir auch viele ehrenamtliche Helfer verloren haben, weil die Menschen, um die sie sich gekümmert haben, am Ende nicht bleiben konnten. Das Zweite: Wenn man all die notwendigen Maßnahmen der Registrierung, der erkennungsdienstlichen Behandlung zentral machen würde, wäre dies eine extreme Entlastung für unsere Verwaltungen und wir könnten uns dann um das kümmern, was nur kommunal geht: die Integration.

Stolz: Die Menschen ohne Bleibeperspektive kommen aus sicheren Herkunftsstaaten. Die kommen ganz regulär in die Städte und Gemeinden und wissen, dass es für sie überhaupt keine Perspektive gibt. Die Verfahren ziehen sich manchmal über Jahre hin. Das beschäftigt uns vor Ort, das nimmt uns Kapazitäten weg, die wir zur Integration derjenigen brauchen, die bleiben.

Simmler: Wir brauchen schlanke und schnelle Verfahren und müssen auch ehrlich zu den Menschen sein, sonst kommt es zu solchen Fällen, in denen ein Asylbewerber erst nach Jahren wieder das Land verlassen muss und sich viele fragen: Warum muss der denn gehen, der ist doch integriert?

„Kommunikativ ein Schlag ins Gesicht“: Spitze des Main-Kinzig-Kreises will weiter Druck machen

Wie realistisch ist es, dass die Ratschläge auf Bundes- oder europäischer Ebene gehört werden?

Simmler: Wenn der kleine Main-Kinzig-Kreis sagt: Kümmert euch mal um die europäische Verteilung, hört sich das erst einmal lustig an. Aber es geht ja auch darum, aus kommunaler Sicht das zu stärken, was auf Bundesebene schon angegangen worden ist und auch läuft, denn es geht nur ganzheitlich.

Stolz: Wir geben uns auch nicht mehr mit einfachen Antworten des Landes zufrieden. Kleines Beispiel: Wir haben ja die Erweiterung der Kapazitäten der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen gefordert: Da kam dann die lapidare Antwort des Sozialministers: Geht leider nicht. Kriegen wir kurzfristig nicht hin. Da sagen wir: Doch, das geht. Wir haben auch innerhalb weniger Monate als Landkreis 2000 Plätze aus dem Boden gestampft, die der Kommunen nicht mitgezählt.

Simmler: Nach 14 Monaten so etwas zu sagen, ist kommunikativ ein Schlag ins Gesicht aller kommunal Verantwortlichen, die zwischen Maintal und Sinntal angesichts der Not aufgestanden sind und angepackt haben.

Glauben Sie, dass die Flüchtlingskrise zu einem Wahlkampfthema in Hessen wird?

Simmler: Wir dürfen nicht den Fehler machen, zu glauben, das Thema sei nicht da, wenn wir es nicht ansprechen. Das Thema ist bereits mitten in der Gesellschaft angekommen. Es mangelt ohnehin an Kindergartenplätzen. Fachkräfte gibt es auch zu wenige. In den Schulen haben wir im vergangenen Jahr kreisweit 70 zusätzliche Klassen eingerichtet, in einer Situation, in der die Eltern ohnehin schon merken, dass es nicht so läuft, wie sie es sich vorstellen. Wenn wir als kommunal Verantwortliche das Thema nicht ansprechen – wie wir es unter anderem in den 13 Punkten tun – nämlich ruhig und ohne Polemik, dann werden es andere tun. Und zwar auf eine Art und Weise, wie wir uns das nicht wünschen.

Landrat Stolz beklagt Notlage bei Flüchtlingsunterbringung im Main-Kinzig-Kreis

Spüren Sie, dass sich das Klima wandelt?

Stolz: Ja

Simmler: Auf jeden Fall.

Wie nehmen Sie das wahr?

Stolz: Da werden einfache Vergleiche gezogen. Nehmen Sie die Hallenbad-Schließung in Erlensee. Sie bekommen da im Gespräch mit den Menschen direkt oder indirekt gesagt: So und so viele Millionen kostet eine Flüchtlingsunterkunft XY, und hier habt ihr nicht einmal das Geld, das notwendig ist, um das Hallenbad zu sanieren.

Was antworten Sie?

Stolz: Ich versuche immer, die Zusammenhänge zu erklären und sage: Leute, vermischt nicht die Töpfe. Da gilt es zu unterscheiden zwischen der freiwilligen Leistung einer Kommune, zu denen ein Hallenbad gehört, und einer ganz starken staatlichen Aufgabe. Es gibt kaum einen Bereich, der hoheitlicher ist, als die Unterbringung von Geflüchteten. Aber ganz ehrlich: Die Leute nehmen das zur Kenntnis, aber wir überzeugen dort an der Stelle eigentlich niemanden.

Simmler: Und obwohl wir vielleicht nicht alle überzeugen, ist die Strategie richtig, transparent mit den Dingen umzugehen.

Bei über 20 Millionen Euro lag das Defizit des Main-Kinzig-Kreises im Bereich der Unterbringung der Flüchtlinge im vergangenen Jahr. Geld, das bisher nicht von Bund und Land gegenfinanziert ist. Müssen die Bürger Einsparungen an anderer Stelle befürchten?

Stolz: Eine direkte Auswirkung wie die Erhöhung der Grundsteuer – nein. Erst einmal verringern sich die Rücklagen des Kreises. Unser Konto schmilzt. Das Geld fehlt uns natürlich an anderer Stelle, zum Beispiel, um ein Defizit an den Main-Kinzig-Kliniken oder an den Alten- und Pflegezentren abzufangen. Das ist auch der Grund, warum wir bei dem Thema Finanzierung so stark hinterher sind.

Hat es Auswirkungen auf Investitionen in Schulen?

Ganz klar: Nein! Das Thema Schule ist gedeckt mit der Schulumlage. Daraus dürfen wir gar kein Geld zur Querfinanzierung nehmen.

Ändert sich an der Finanzierung nichts …

Simmler: … es ist undenkbar, dass die Finanzierung so bleibt, wie sie ist. Das Thema ist eine Bundes- und Landesaufgabe. Wir haben in Deutschland ein Asylgesetz – hinter dem stehen wir. Wir werden aber so nicht weitermachen können. Wir gehen jetzt in die Haushaltsaufstellungen. Da wird sich am Ende des Tages das Regierungspräsidium einschalten, Stichwort Rettungsschirm, Stichwort Hessenkasse, Stichwort Kreisumlage. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns nicht abspeisen lassen.

„Es geht auch um die Zukunft“: Debatte um Flüchtlingsunterbringung im Main-Kinzig-Kreis

Wäre die Unterbringung in Turnhallen nicht günstiger gewesen?

Simmler: Nein. Zunächst geht es gesellschaftlich nicht, dauerhaft der Gemeinschaft, den Schülern, den Vereinen, Raum zu entziehen. Es geht auch nicht, Menschen dauerhaft so unterzubringen. Wir müssen eine Versorgung zentral anbieten, denn in einer Turnhalle zu kochen, das geht einfach nicht. 24-Stunden-Betreuung an sieben Tagen, das ist das Teuerste, was man in so einer Notsituation tun kann, aber es war aufgrund des zeitlichen Drucks und der Zahl der Ankommenden kurzfristig auch einfach nichts anderes möglich.

Stolz: Ich gehe davon aus, dass wir – anders als bisher – eine deutlich höhere Erstattung von Bund und Land bekommen. Das kann und wird sich keiner der politisch Verantwortlichen, auch vor dem Hintergrund anstehender Wahlen, ans Bein binden wollen. Das kann keiner politisch durchhalten.

Simmler: Und ich setze noch eins drauf: Es geht nicht nur um die Vergangenheit, es geht auch um die Zukunft. Die Pauschale, die wir vom Land für einen Asylbewerber erhalten, liegt bei 968 Euro pro Person im Jahr 2023. Wir haben allerdings schon 2017 berechnet, dass unsere Kosten für Unterbringung und Betreuung rund 250 Euro höher liegen. Bis heute ist das Delta natürlich noch größer geworden. Wir sind 2019 hier schon mit einem Minus von zwei Millionen Euro rausgegangen – und da hatten wir nur eine Gemeinschaftsunterkunft und nicht 15 wie heute. Die Pauschale aus dem Landesaufnahmegesetz muss erhöht werden.

Gibt es ein Problem mit der Kommunikation zwischen den politischen Ebenen?

Simmler: Der Bund und das Land täten gut daran, viel regelmäßiger und themenbezogener Kommunikation mit der kommunalen Ebene zu betreiben. Das ist eine unserer Forderungen. 2015 und 2016 hatten wir Gipfel über Gipfel. Seit Februar 2022 gab es mit der kommunalen Ebene keinen direkten Austausch, um mal wahrzunehmen, wie ist es in den Regionen in Hessen. Mit unseren Städten und Gemeinden sprechen wir jede Woche auf Arbeitsebene und einmal pro Monat in der Bürgermeisterkreisversammlung.

Und warum gibt es keinen Austausch mit dem Land?

Stolz: Weil es nicht gewollt ist. Deshalb strengen wir ja auch die Normenkontrollklage an, weil wir uns anders schlichtweg nicht mehr zu helfen wissen. Im Oktober haben wir gesagt, dass die Verteilsystematik für Hessen nicht mehr in Ordnung ist. Wir haben um ein Gespräch gebeten. Bis heute haben wir lediglich eine Eingangsbestätigung vom Land bekommen – mehr nicht.

Wann wird die Klage auf den Weg gebracht?

Simmler: Innerhalb der nächsten zwei Wochen. Der Main-Kinzig-Kreis klagt dann als erster Kreis gegen die Verordnung des Landes Hessen. Das ist schon ein Novum.

Das Gespräch führten Yvonne Backhaus-Arnold und Holger Weber-Stoppacher

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