Hanauer Gericht sieht nackte Tatsachen nach misslungener Polizeiaktion

Der Versuch, den aus einer geschlossenen Klinik geflohenen Straftäter zu verhaften, ist gründlich schiefgegangen. Nun untersucht das Hanauer Schwurgericht den Fall, denn es geht um versuchten Totschlag an zwei Polizisten.
Hanau – Aus Sicht der Zivilfahnder ist es die perfekte Falle, in die sich Joseph W. selbst hinein manövriert hat. „Er ist in die Sackgasse der Engelhardstraße eingebogen“, berichtet der 49-jährige Einsatzleiter am Freitag als Zeuge vor der Schwurgerichtskammer am Landgericht in Hanau.
Zusammen mit seinen Kollegen ist er W. an diesem 5. Mai 2021 bereits seit den Morgenstunden auf den Fersen. Denn nach W., dem zusammen mit einem Komplizen wenige Tage zuvor eine spektakuläre Flucht aus einer geschlossenen Entziehungsanstalt bei Kassel gelungen ist, wird landesweit gesucht. In der Hanauer Innenstadt soll Endstation für den mehrfach vorbestraften Nidderauer sein. Doch ihm gelingt erneut eine spektakuläre Flucht. Dabei soll er auf zwei Fahnder zugerast sein. Deshalb muss sich der 25-Jährige wegen des Vorwurfs des zweifachen versuchten Totschlags verantworten (wir berichteten).
Gerichtsverhandlung in Hanau: Fahnder beschreibt „eigentlich ausweglose Situation“
Auch heute kann es der erfahrene Fahnder immer noch nicht glauben, dass W. ihm und seinen Kollegen entwischt ist. Das ist ihm deutlich anzumerken. „Das war eigentlich eine ausweglose Situation für ihn“, sagt er zu der Rekonstruktion der filmreifen Szene, auf der eine Übermacht von vier getarnten Streifenwagen versucht, W. in dessen BMW zu stoppen und festzunehmen. Die Autos versperren den Weg und keilen die Limousine ein. Mehrere Beamte springen heraus, zücken ihre Dienstwaffen und schreien auf W. ein: „Polizei, sofort stehen bleiben! Polizei, öffnen Sie die Tür!“ Der Geflüchtete hebt zunächst beide Hände.
„Ich habe versucht, die Tür des BMW zu öffnen.“ Aber die Zentralverriegelung verhindert das. Sein Kollege schlägt sogar die Scheibe auf der Beifahrerseite ein. Doch das martialische Auftreten scheint W. nicht sonderlich zu beeindrucken. Es ist nur eine kleine Lücke. W. nutzt sie trotzdem.
Fahnder aus Hanau: „Wurde zwischen Fahrzeugen eingequetscht.“
„Wie ist er denn da durchgekommen?“, will der Vorsitzende Richter Dr. Mirko Schulte wissen. „Da hat normalerweise kein Auto durchgepasst. Aber er hat sich mit sehr langsamem Tempo einen Weg gebahnt, einen Sandstein zur Seite geschoben und sich dann durch die Lücke zwischen unseren Wagen hindurchgequetscht“, sagt der Beamte, der wenige Sekunden später selbst in der Klemme sitzt. „W. ist langsam weitergefahren. Ich wurde zwischen den Fahrzeugen eingequetscht.“
In dieser misslichen Lage steckt der Einsatzleiter zum Glück nur wenige Sekunden. „Ich habe mich an beiden Fahrzeugen abgestützt und selbst befreit.“ Die Folgen für den Zivilfahnder werden auf dann auf einem Foto sichtbar. Denn auf dem Bildschirm der Schwurgerichtskammer erscheint ein Beweisfoto, das die nackten Tatsaschen zeigt: ein Gesäß mit einem ziemlich großflächigen blauen Fleck auf der linken Seite. „Das habe ich aber erst am anderen Morgen danach beim Duschen bemerkt“, schränkt der Polizist ein, der Bluterguss sei auch nicht so schmerzhaft gewesen. Bei ihm überwiegt der Frust über den missglückten Festnahmeversuch: „Das hat mich geärgert.“ Denn am Ende sieht der Einsatzleiter nur noch, dass W. das Weite sucht und „mit Vollgas aus der Sackgasse“ zur Kreuzung mit der Akademiestraße flieht. Mehr kann er nicht aussagen, weil ihm die Sicht versperrt ist. Und er hat noch eine Begründung, die zum Beweisfoto passt: „Ich habe nur daran gedacht, meinen eigenen Arsch zu retten.“
Angeklagter bittet um Entschuldigung und bietet Schmerzensgeld an
Sein jüngerer Kollege, ein Kriminaloberkommissar, hat sich beim Einschlagen der Autoscheibe einen blutigen Finger zugezogen. Übrig geblieben ist heute noch eine kleine Narbe, die das Gericht sich ansieht. W. bittet den Beamten um Entschuldigung. Doch dabei soll es nicht bleiben. Sein Strafverteidiger Michael Euler bietet im Namen seines Mandanten ein Schmerzensgeld von 1000 Euro als Wiedergutmachung verbindlich an. Der Prozess wird Ende März fortgesetzt. (Von Thorsten Becker)