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Paukenschlag: Angeklagte überraschend auf freien Fuß

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Von: Thorsten Becker

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Handschellen abgenommen: Claudia H. ist gestern vom Hanauer Schwurgericht auf freien Fuß gesetzt worden .
Handschellen abgenommen: Claudia H. ist gestern vom Hanauer Schwurgericht auf freien Fuß gesetzt worden . © Mike Bender

Im Kindermordprozess ist die Mutter des vor 33 Jahren getöteten Jungen wieder frei. Die Beweislage gegen die Frau aus dem Umfeld einer obskuren Sekte gibt den Ausschlag.

Hanau – Paukenschlag im Kindermordprozess vor dem Hanauer Landgericht: Die Richter haben am 20. Verhandlungstag den Haftbefehl gegen die 61-jähriger Mutter des vor 33 Jahren getöteten Buben aufgehoben. Die Beweislage sei zu dünn, um die Angeklagte weiter in Untersuchungshaft zu behalten.

Seit 544 Tagen sitzt Dr. Claudia H., die Mutter des vor 33 Jahren im Umfeld einer obskuren Sekte in der Weststadt getöteten Jan. H. (4) unter Mordverdacht in Untersuchungshaft. Seit dem 14. September vergangenen Jahres auch auf der Anklagebank. Am Mittwochabend, am Ende des 20. Verhandlungstags, verlässt H. das Landgericht. Ohne Handschellen, denn die Schwurgerichtskammer unter Vorsitz von Susanne Wetzel hat soeben ihre Entscheidung verkündet: „Der Haftbefehl wird aufgehoben, die Angeklagte ist sofort freizulassen.“

Kindermordprozess in Hanau: „Angeklagte ist sofort freizulassen“

Nach den bisherigen, oft tagelangen Zeugenaussagen bestehe „kein dringender Tatverdacht“ mehr, dass H. gemeinschaftlich mit der Sektenanführerin Sylvia D. ihren Sohn ermordet habe. Auch für eine Beihilfe zum Mord gebe es „keine gewichtigen Anhaltspunkte“, so Wetzel. So habe es in dem Haus an der Keplerstraße „unzweifelhaft Kindesmisshandlungen gegeben“, jedoch könne bislang nicht mit der juristisch nötigen Sicherheit festgestellt werden, dass H. alles gewusst habe, noch könne ihr eine „direkte Beteiligung nachgewiesen“ werden.

Wiebke Otto-Hanschmann und Thomas Scherzbeg, ihre beiden Verteidiger, hatten den Antrag eingereicht, die 61-Jährige aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Die beiden Staatsanwälte Dominik Mies und Florian Hübner hatten in einen umfangreichen Schriftsatz dagegen argumentiert (wir berichteten). H. war am 25. September 2020 während einer Geschäftsreise in Leipzig aufgrund eines Haftbefehls festgenommen.

Kindermordprozess in Hanau: „Niederträchtige Abrechnung mit einem wehrlosen Kind“

Nur 36 Stunden zuvor war die mutmaßliche Sektenführerin Sylvia D. vom Hanauer Schwurgericht wegen Modes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass sie den vierjährigen Buben, der in einen Leinensack verschnürt im Bad liegen musste, qualvoll habe sterben lassen. Dabei hatte der damalige Vorsitzende Richter Dr. Peter Graßmück die Tagebucheinträge von Claudia H. als „niederträchtige Abrechnung eines Erwachsenen mit einem wehrlosen Kind“ bezeichnet.

Um dieses Tagebuch geht es auch am Mittwoch. Denn nur wenige Stunden nach dem der Notarzt am 17. August 1988 den Tod ihres Sohnes festgestellt hatte, schrieb Claudia H. in ihr Tagebuch: „Der Alte hat gestern unseren Jan geholt.“ Damit sollte Gott gemeint sein. Der Eintrag ist ein von abstrusen Glaubensvorstellungen geleiteter, eiskalter und minutiöser „Bericht“, Sie bedauert lediglich, dass die ganzen Jahre über versucht worden sei, Jans „Wahn zu bremsen“ und bezeichnet ihren eigenen Sohn als „sadistisch“. Im ersten Prozess gegen Sylvia D. hatte sich H. als Zeugin völlig emotionslos verhalten und in den mehrstündigen Vernehmungen Jan nicht beim Namen genannt – sondern nur von „dem Kind“ gesprochen.

Angeklagte im Kindermordprozess: „Ich habe wohl versagt, denn ich konnte mein Kind nicht schützen“

Darauf kommt nun die Vorsitzende Richterin erneut zu sprechen: „Das ist nicht die Sprache einer um den Tod ihres Sohnes trauernden und fürsorglichen Mutter . . .“ H. relativiert diesmal das von ihr selbst Geschriebene. „Diese Formulierungen von damals sind mir heute fremd“, sagt sie und beteuert: „Ich vermisse ihn bis heute.“ Und sie übt Selbstkritik: „Ich habe wohl versagt, denn ich konnte mein Kind nicht schützen.“ Ist die damals noch junge Mutter von Sylvia manipuliert worden? „Kann es sein, dass Frau D. Ihnen das alles eingeredet hat?“, will Wetzel wissen. Doch H. kann sich nicht mehr erinnern.

Sie selbst sei „erschrocken“ gewesen, als sie von den physischen und psychischen Übergriffen von Sylvia D. auf Jan im Nachhinein erfahren habe. „Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich Jan dort nicht gelassen.“ Im Oktober und November 2019 hatte sich H. als Zeugin ganz anders geäußert und D. gepriesen: „Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der so unkompliziert und selbstlos ist wie Sylvia D.“ Doch diese Äußerungen als Zeugin können im Prozess gegen sie selbst wohl nicht verwendet werden. Es lasse sich auch nicht ausschließen, so Wetzel, dass H. ihren Sohn an diesem Tag zwar in den Sack gesteckt habe – aber Sylvia D. ihn danach über dem Kopf zugeschnürt habe.

Corona bringt Hanauer Prozesstag durcheinander

Zuvor wird dieser Prozesstag schon am Morgen kräftig durcheinander gewirbelt. Denn eigentlich hätte der älteste Sohn von Sylvia D. erneut als Zeuge vernommen werden sollen. Bereits um 8.20 Uhr, kurz vor Beginn der Verhandlung, informiert Rechtsanwalt Matthias Reuter, der als Zeugenbeistand fungiert, die Kammer, dass sein Mandant an Corona erkrankt sei und die Reise aus dem Ausland nicht erneut antreten könne.

Der Prozess dürfte sich nun weiter in die Länge ziehen. Vor allem, weil der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe es bislang nicht geschafft hat, über die Revision des Mordurteils gegen Sylvia D. zu entscheiden, obwohl die Stellungnahmen der damaligen Verteidiger sowie der Generalbundesanwaltschaft bereits seit Monaten vorliegen. „Die Sache liegt dem Senat zur Entscheidung vor“, heißt es immer wieder aus der BGH-Pressestelle auf mehrfache Nachfragen. Der Prozess wird im April fortgesetzt. (Thorsten Becker)

Eine Aussteigerin aus der Sekte in Hanau hat im Kindermordprozess erschreckende Details preisgegeben.

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