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Hanauer Kindermordprozess: Angeklagte Mutter weint und streitet alle Vorwürfe ab

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Von: Thorsten Becker

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„Ich war oft überfordert“: Claudia H., die von ihrer Verteidigerin Wiebke Otto-Hanschmann mit einem Aktendeckel abgeschirmt wird, hat am Montag alle Mordvorwürfe abgestritten.
„Ich war oft überfordert“: Claudia H., die von ihrer Verteidigerin Wiebke Otto-Hanschmann mit einem Aktendeckel abgeschirmt wird, hat am Montag alle Mordvorwürfe abgestritten. © Arne Dedert/dpa

In Hanau wird der Kindermordprozess um die mutmaßliche Sektenführerin Sylvia D. fortgesetzt. Diesmal sitzt die Mutter auf der Anklagebank.

Hanau – Mit einer ausführlichen Aussage hat sich die wegen Mordes angeklagte Claudia H. (60) gegen die schweren Vorwürfe der Staatsanwaltschaft verteidigt, vor 33 Jahren an der vorsätzlichen Tötung ihres Sohns Jan beteiligt gewesen zu sein. Der Vierjährige war am 17. August 1988 im Haus der bereits im ersten Verfahren wegen Mordes verurteilten, mutmaßlichen Sektenanführerin Sylvia D. in der Hanauer Weststadt ums Leben gekommen – erstickt an Erbrochenem in einem zugeschnürten Leinensack, wie das Landgericht Hanau im September 2020 festgestellt hatte.

Vor knapp zwei Jahren hatte H. in einer insgesamt 17-stündigen Vernehmung an vier Verhandlungstagen als Zeugin eiskalt gewirkt, von ihrem leiblichen Sohn fast ausschließlich als „dem Kind“ gesprochen und ihn nicht beim Namen genannt. Krampfhaft hatte sie versucht, als treue Anhängerin von Sylvia D. deren recht abstruse Glaubensgrundsätze zu verteidigen und sie als „kinderlieb“ darzustellen.

Kaum jemand im Schwurgerichtssaal hatte ihr das geglaubt, weil ihre Tagebucheinträge eine ganz andere Sprache sprechen: „Der Alte hat gestern unseren Jan geholt.“ Das hat H. nach eigenem Bekunden 24 Stunden nach dem schrecklichen Geschehen ihrem Tagebuch anvertraut. An entscheidende Dinge konnte sie sich sehr oft nicht erinnern.

Hanau: Mutter in Kindermordprozess angeklagt – „Ich war oft überfordert.“

Am Montag (27.09.2021) scheint eine ganz andere Frau zu sprechen, die diesmal nicht auf dem Zeugenstuhl, sondern auf der Anklagebank sitzt. Eine Frau, die Gefühle zeigt: „Ich habe meinen Sohn geliebt und schmerzlich vermisst .... bis heute.“ Eine Mutter, die offenbar auch ein schlechtes Gewissen hat: „Dass mein Kind gelitten haben soll – und ich es nicht mitbekommen haben soll – schmerzt mich am meisten.“ Und: Sie habe trotz Biologiestudium und anschließender Dissertation „immer versucht, eine gute Mama“ zu sein. Doch sie gibt mehrfach zu: „Ich war oft überfordert.“

Diesmal ist nicht mehr von „dem Kind“ die Rede. Kein Wort davon, dass Jan böse gewesen oder gar „machtsadistisch“ gewesen sei, wie es im Tagebuch steht. „Jan hat oft mit seinem Teddy geredet“, sagt H., bevor ihr die Stimme verschlägt. Sie schluchzt: „Der Teddy sitzt heute in meinem Arbeitszimmer.“

Kindermordprozess in Hanau: Mutter streitet Vorwürfe ab – „Das hätte ich nicht gekonnt.“

Als Studentin und junge Mutter mit Anfang 20 habe sie schließlich innerhalb der religiösen Gemeinschaft, in der die „Träume“ von Sylvia D. im Mittelpunkt standen, ein „gutes Gefühl gehabt“, ihren Sohn D. anzuvertrauen. „Jan ist oft bei der Familie D. gewesen.“ Zwar sei sie „nicht immer mit den Erziehungsmethoden einverstanden“ gewesen. Und nach 33 Jahren erinnert sich H. sehr konkret: „In meinem Beisein war Frau D. immer lieb zu Jan.“ Anders als zahlreiche Zeugen, die im ersten Prozess von schweren Kindesmisshandlungen berichtet hatten, habe sie „Brutalität nicht erlebt“.

Auch nicht in dem Jahr, als sie von Weiterstadt nach Hanau gezogen ist. „Ich hatte meine Dissertation eingereicht und dann die Hausarbeit bei der Familie D. übernommen – das war eine turbulente Zeit.“ Das war im Mai 1988, drei Monate bevor Jan gestorben ist. An den Todestag könne sie sich jedoch „nur in Fragmenten“ erinnern.

Den Kern der Anklage streitet sie jedoch ab. „Ich habe Jan niemals mit Gewalt in den Sack gesteckt.“ Sie sei über die Vorwürfe „entsetzt“. Vor allem, dass sie das schreiende Kind sich selbst und in der Obhut von Sylvia D. gelassen habe, um auf den Hanauer Wochenmarkt zu gehen. „Das hätte ich nicht gekonnt.“ Zudem habe sie ihr Kind „nur selten in den Sack“ gelegt. „Er hatte immer Luft zum Atmen und Bewegungsfreiheit.“

Kindermordprozess in Hanau: Angeklagte rückt in entscheidendem Punkt von alter Aussage ab

Als sie zurückkehrte und Sylvia D. ihr sagte, dass es sein könne, dass „der Alte Jan früher zu sich holt“ und Jan nicht mehr wiederbelebt werden konnte, sei sie geschockt gewesen. Davon, dass Sylvia D. ihren Sohn aus niedrigen Beweggründen ermordet haben könnte, um ihre eigene Vormachtstellung innerhalb der sektenähnlichen Gemeinschaft zu stärken, ist sie nicht überzeugt: „Ich glaube immer noch nicht, dass sie ihn hat sterben lassen“, sagt Claudia H., „sie hätte mich über 30 Jahre belogen. Ich habe Frau D. vertraut. Ich glaubte ihr.“

Hatte sie Sylvia D. im ersten Prozess noch als einzig wahre Traumdeuterin und fürsorgliche Tagesmutter gepriesen, so rückt H. diesmal deutlich von ihr ab. D. habe sich verändert, als die Ermittlungen 2015 wieder aufgenommen worden seien. „Sie hat ständig mit mir telefoniert und ungebremst auf mich eingeredet.“ Immer wieder sei es D. um den Todestag gegangen. „Sie hat auf meine Gefühle keine Rücksicht genommen.“

Und in einer recht entscheidenden Nuance rückt sie diesmal im Unterschied zur ersten Aussage ab. Denn Martin D., der Sohn der mutmaßlichen Sektenanführerin, hatte im ersten Prozess ausgesagt, er sei am 17. August 1988 im Haus an der Keplerstraße gewesen. „Ich habe in meinem Tagebuch geschrieben, dass Martin mit uns auf dem Markt gewesen sei“, stellt sie nun klar. Dies sei offensichtlich nicht so gewesen. Sie habe jedoch keinesfalls „etwas verschleiern“ wollen, betont sie.

Kindermordprozess: Gericht in Hanau sucht weltweit nach wichtigem Augenzeugen

Eines ist klar: Martin D. ist vor 33 Jahren der einzige Augenzeuge gewesen. Von ihm wird es abhängen, wie dieser Prozess weitergeht. Doch der weltweit aktive Produzent ist sowohl für die Schwurgerichtskammer als auch für seinen Hanauer Rechtsanwalt nicht erreichbar. „Wir wissen derzeit nicht, wo er sich aufhält“, informiert Landgerichtspräsidentin Susanne Wetzel alle Beteiligten. Der Prozess wird fortgesetzt. (Thorsten Becker)

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