„Wir versorgen mehr Leute denn je“: Hanauer Tafel ist am Limit - Hohe Nachfrage, wenig Lebensmittel

Die Hanauer Tafel ist gefragt wie nie. Doch es kommen immer weniger Nahrungsmittel rein. Die Helfer sind umso mehr auf Geldspenden angewiesen.
Hanau - Der Zufall wollte es so. Marietta Becker spazierte im Sommer 1995 zum Bäcker an der Ecke und entdeckte vor dem Laden eine volle Mülltonne, gefüllt mit Brot, Brötchen und anderen Backwaren. „Mir stellten sich die Nackenhaare auf, das darf doch nicht wahr sein“, regte sich die Kesselstädterin auf. Sie beließ es nicht beim Lamentieren, bis heute packt die 82-Jährige an der Hanauer Tafel und im Kleinen Laden kräftig mit an.
Die Lebensmittelausgabe für Menschen in einer schwierigen Situation wird von der Stiftung Lichtblick der evangelischen Marienkirchengemeinde zu Hanau getragen. Und die hat gerade sehr schwer an ihrer Aufgabe zu tragen: Immer mehr Geflüchtete, aber auch Studierende, Ruheständler, kleine und große Familien sind auf die Gaben der Tafel angewiesen. Die bekommt jedoch immer weniger Nahrungsmittel, die von den Supermärkten aussortiert werden, weil die Läden immer besser disponieren, den Umsatz der Ware präziser bestimmen und so Überschüsse vermeiden.
Tafel in Hanau bekommt immer weniger Nahrungsmittel - Supermärkte kalkulieren präziser
Wie können die Ehrenamtlichen wie Marietta Becker dieser Entwicklung zugunsten ihrer Kunden begegnen? Immerhin stieg die Zahl der Inhaberinnen und Inhaber eines Tafel-Ausweises von 650 auf rund 700, „das ist unsere absolute Kapazitätsgrenze“, mahnt aber Jutta Knisatschek, die Geschäftsführerin von Lichtblick.
Durch die Inflation kommen Menschen, die bis jetzt alleine über die Runden gekommen sind. „Zum Glück bekamen wir vor Weihnachten viele Spenden von Privatpersonen und Firmen, die ihr Portemonnaie weit aufgemacht haben“, berichtet Knisatschek. „Da sind Leute für uns einkaufen gegangen, mit dem Auto vorgefahren und haben Nudeln, Konserven und noch mehr haltbare Artikel ausgeladen. Das war sehr berührend.“ Doch die Ungewissheit bleibe. „Wir hoffen, dass wir weitere Zuwendungen erhalten.“
Tafel in Hanau: Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit
Marietta Becker, die Seniorin aus dem Musikerviertel, erinnert sich gut an die „Kriegs- und Nachkriegszeit, als alles rationiert war und man überlegen musste, ob man ein Stück Brot essen durfte“. Ihre Mutter hat die Scheiben exakt abgemessen. Das alles ging ihr durch den Kopf, als sie vor der brotgefüllten Tonne stand. „Ich bin in die Bäckerei gegangen und habe nach dem Meister verlangt.“ Nach einem kurzen Gespräch zeigte sich der Mann einsichtig, belieferte später auch die Tafel.

Die Lebensmittelretterin lebt seit 1943 in Hanau, erlernte die Berufe Krankengymnastin, Masseurin und medizinische Bademeisterin. Sie hat im St. Vinzenz-Krankenhaus gearbeitet und nach der Geburt ihres dritten Kinds an zwei Grundschulen orthopädisches Turnen unterrichtet, in zwei Praxen Vertretungen übernommen.
Als sie vor 28 Jahren bei der Hanauer Tafel ihre Mitarbeit angeboten hatte, saß sie bereits samstags an der Kasse und im Café des Puppen- und Spielzeugmuseums. „Ich fuhr mit dem Fahrrad zur Marienkirche und lernte dort zwei sehr nette Damen kennen. Denen habe ich mein Erlebnis vorgetragen, sie bestätigten meine Haltung und erklärten, dass es so viele Bedürftige gibt, dass es eine Schande sei, Brot wegzuwerfen“, erzählt die Seniorin.
Tafel in Hanau: Helferin Marietta Becker ist seit 28 Jahren im Einsatz
Brot hatten sie damals eigentlich genug in der Tafel, doch helfende Hände könnten sie noch gebrauchen, luden die Frauen der ersten Stunden ein. Zwei Tage später erklärte Becker, dass sie mitmacht. „Im Bonhoeffer-Haus haben wir unter primitivsten Bedingungen gearbeitet“, schildert sie die Anfänger. „Im Keller hatten wir einen Raum, keine Toilette, kein Telefon, es war kalt, aber wir konnten die Leute mit dem Nötigsten versorgen.“ Es gab ein bisschen Joghurt, Milch und Brot, „die etwa 30, 35 Personen waren glücklich“.
Die Adresse entsprach allerdings nicht mehr den Vorschriften und Auflagen für den Betrieb. Also nahm man die Offerte neben dem Goldschmiedehaus an. Am Altstädter Markt gab es drei Räume, „wir hatten plötzlich Platz für Warenausgabe, Vorräte, die Büroarbeit und zum Frühstücken“. Die Abholer mussten jedoch auf der Straße warten, was vielen peinlich war, „sie wollten nicht gesehen werden“.
„Ich habe das Haus immer als letzte verlassen“: Marietta Becker ist Teamleiterin der Hanauer Tafel
Marietta Becker obliegt mittlerweile die Teamleitung. „Ich habe das Haus immer als letzte verlassen“, schildert sie. Erneut mahnten Gesundheits- und Ordnungsamt die Auflagen an. Auch die neue Unterkunft war schon wieder zu klein. Und die Sprecherin hätte das Sortiment gerne um Bekleidung und Haushaltswaren erweitert. Der „Lichtblick“ zog also in den dritten Laden an der Hospitalstraße, die ehemalige EAM.
Hanauer Tafel ist am Limit
Seit rund 16 Jahren verteilt die Hanauer Tafel an ihre Kunden Weihnachtspäckchen, die gespendet wurden. An die 2370 Päckchen waren es diesmal, die an drei Ausgabetagen im Tafel-Laden am Johanneskirchplatz verschenkt wurden. Schulen, Kindertagesstätten, Vereine, Kirchengemeinden, Unternehmen und Privatpersonen haben sich an der Aktion wieder beteiligt.
Jutta Knisatschek, Geschäftsführerin der Stiftung Lichtblick, die die Tafel betreibt, berichtet, dass zu den 650 Tafelausweisen, die oft ganze Familien - also insgesamt mehrere Tausend Menschen - unterstützen, in diesem Jahr weitere 50 Tafelausweise hinzugekommen seien. „Wir sind jetzt leider am Limit. Mehr Ausweise können wir nicht ausgeben, obwohl der Bedarf da ist“, sagt sie. „Wir versorgen aktuell mehr Leute denn je und müssen daher viele Lebensmittel dazu kaufen, um der großen Nachfrage gerecht zu werden.“ Aus diesem Grund sei die Tafel auf Geld- und Lebensmittelspenden dringend angewiesen. Spendenkonto: Evangelische Bank e.G., IBAN DE1352 0604 1000 0000 9180, Verwendungszweck: Hanauer Tafel.
Der aktuelle Strandort befindet sich am Johanneskirchplatz, umfasst die Lebensmittelausgabe, das Büro und einen Warteraum. Eine Wendeltreppe führte runter in den „kleinen Laden“ mit Kleidung, Geschirr und Drogerieartikeln. Als Namen wählten sie „Kleiner Laden“, der vor vier Jahren in die Ramsaystraße in die frühere Metzger Neupert an der Pestalozzischule wechselte. Er steht jedermann offen, betont die Leiterin.
Tafel in Hanau am Limit: „Mehr Ausweise können wir nicht ausgeben, obwohl der Bedarf da ist“
Einmal pro Woche, wenn die Spenden hereinkommen, wird die Ware überprüft und einsortiert nach Baby-, Kinder-, Damen- und Herrenkleidung. Zweimal im Jahr wird die Auslage von Sommer- auf Winterware umgestellt. „Alle Artikel gibt’s für kleines Geld“, unterstreicht die Verkäuferin. Sie wollen nämlich keine Almosen ausgeben und nennen die Besucher Kunden. Die sagen, „ich gehe einkaufen“. „Wenn ich sehe, wie glücklich sie sind, für zwei Euro ein ganzes Porzellan-Service ergattert zu haben, dann spürste, du hast wieder was Gutes getan.“ Aus diesem Gefühl schöpfe das ganze Team Kraft.
Zur Stammkundschaft zählen viele Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch junge Familien und Senioren. „Ich kann ganz gut zuhören“, stellt die Helferin hervor, „die Besucher dürfen sich hier ruhig mal richtig ausquatschen“. Dabei erfahren die Frauen im Geschäft „viel Privates“, Details von Ehe, Flucht und Ängsten. Inzwischen packen auch mehrere Jüngere und Männer aus dem Tafel-Laden mit an. Insgesamt sind sie fast 40 Ehrenamtliche, aufgeteilt in Arbeitsschichten. (Michael Prochnow)