Damaliger Polizeipräsident hat Umstellung selbst abgelehnt

Hanau/Wiesbaden – Roland Ullmann, der ranghöchste Polizist des Landes, hat vor dem Hanau-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags den Abgeordneten in Wiesbaden ganz offenkundig nicht die Wahrheit gesagt, als es darum ging, das Notruf-Chaos auf der Wache I in Hanau Freiheitsplatz aufzuklären.
„Arbeitsbelastung ja, Notruf nein“, sagt der amtierende Landespolizeipräsident am Montag auf die Frage, ob ihm die personellen Probleme der Beamten sowie die veraltete Notruftechnik am Hanauer Freiheitsplatz bekannt gewesen seien (wir berichteten). Dort war es bis ins Jahr 2021 nicht möglich, dass bei mehreren gleichzeitig eingehenden Notrufen diese an andere Zentralen weitergeleitet werden. Notrufüberlauf heißt der Fachbegriff.
Die Aussage von Ullmann vor dem Ausschuss steht im krassen Widerspruch zu Dokumenten, die unserer Zeitung vorliegen. Denn bereits im Juni 2012 ordnet das Landespolizeipräsidium, Ullmanns derzeitige Behörde, per Erlass die Zentralisierung der Notrufe in allen Polizeipräsidien in Hessen für das Jahr 2013 an.
Notruf-Chaos in Hanau: Damaliger Polizeipräsident hat Umstellung selbst abgelehnt
Aus Offenbach, dem Sitz des Polizeipräsidiums Südosthessen, kommt drei Wochen später eine Antwort. „In den bisherigen Besprechungen . . . wurde auf Grund der Begebenheiten meiner Behörde das Polizeipräsidium Südosthessen von diesen Überlegungen zunächst ausgenommen.“ Und weiter heißt es: „Eine Umstellung der Notrufbereiche zum genannten Zeitpunkt kann somit im Polizeipräsidium Südosthessen nicht erfolgen.“
Wie aus den Ermittlungen der Hanauer Staatsanwaltschaft, die auch das „Organisationsversagen“ der Behörden unter die Lupe genommen hat, hervorgeht, stammt dieses Schreiben vom 25. Juni 2012. Unterschrieben vom damaligen Präsidenten des Polizeipräsidiums Südosthessen: Roland Ullmann.
Er war bereits 2008 bis 2010 Vizepräsident, danach bis Juli 2020 Präsident der Behörde in Offenbach. Dass es keinen Notrufüberlauf gab, sei ihm bis zum Terroranschlag nicht bekannt gewesen, liest Ullmann vor dem Ausschuss aus seinem seitenlangen Statement abgelesen und behauptet: „Ich habe das erst durch Akteneinsicht zur Kenntnis genommen.“
Mehr Notrufe auf Hanauer Polizeistation als in der Einsatzzentrale in Offenbach
Kann das sein? Die Untersuchung der Staatsanwaltschaft kommt in ihrem Abschlussbericht beispielsweise zur Erkenntnis: „Mit Schreiben vom 8.2.2010 teilte (. . .) dem damaligen Polizeivizevizepräsidenten mit, dass bedingt durch die räumlichen Vorgaben eine Zentralisierung des Notrufs im Polizeipräsidiums Südosthessen erst nach Realisierung des Neubaus möglich sei.“ Und gleichzeitig wurde die Feststellung getroffen, dass zu diesem Zeitpunkt die Leitstelle der Polizei in Offenbach jährlich 70 200 Notrufe eingegangen sind, auf der Polizeistation Hanau I sind es sogar 72 600 gewesen. Und wer ist im Februar 2010 dieser genannte Polizeivizepräsident? Roland Ullmann.
In den Reihen der Angehörigen, die im am Montag Saal des Untersuchungsausschusse sitzen, gibt es ungläubige Blicke. Kopfschütteln. „Bis zum 19. Februar 2020 war ich immer stolz darauf, den Bürgerinnern und Bürgern vermitteln zu können, dass sie in einer sicheren Region leben“, betont Ullmann.
Kritik aus den eigenen Reihen an Ullmanns Aussage: „weltfremd“
Die Berichterstattung unserer Zeitung sorgt derweil in Polizeikreisen für Aufsehen. Beamte, die nicht namentlich genannt werden wollen, zeigen sich „baff erstaunt über diese Aussage“. „Erschreckend“ und „unglaublich“ sind weitere Bewertungen und mehrfach ist zu hören: „Da versucht jemand, sich seiner Verantwortung zu entziehen“. Dass ein langjähriger Präsident und Vizepräsident wie Ullmann nichts von dem Notruf-Chaos in Hanau gewusst haben will, bezeichnen Schutz- und Kriminalbeamte unisono als „weltfremd“.
„Das ist unvorstellbar“, sagt auch Hagen Kopp, Sprecher der Initiative 19. Februar, im Gespräch mit unserer Zeitung. „Hier geht es doch nicht um eine Kaffeemaschine, sondern um den Notruf.“ Kopp kann wie viele Beobachter nicht glauben, dass Ullmann keine Kenntnis vom Notruf-Problem hatte.
Hanaus Oberbürgermeister: „Ich bin fassungslos“
Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) geht es genauso. „Ich kann mir das wirklich nur sehr schwer vorstellen“, so Hanaus OB. Das hier mit der Sicherheit von 200 000 Bürgerinnen und Bürgern aus Hanau und Umgebung gespielt wurde, macht Kaminsky „fassungslos“. Im Ausschuss sind die Töne ähnlich und werden am Montag von Stunde zu Stunde kritischer. Jörg-Uwe Hahn (FDP) sagte, Ullmann hätte von der mangelnden Weiterleitung wissen und handeln müssen: Er habe sich mit dem Thema Notruf befasst und gesehen, dass andere Wachen umrüsteten und der Neubau des Präsidiums in Offenbach – der 2021 auch Hanau einen zentralisierten, neuen Notruf brachte – sich um etwa acht Jahre verzögert.
Robert Lambrou (AfD) entgegnete Ullmann schließlich: „Jetzt wissen wir, wer es alles nicht wusste, aber bei wem liegt denn die politische Verantwortung?“ Bei ihm, räumt Ullmann schließlich ein.
Am Montag ist zudem öffentlich geworden, dass die am Abend des Verbrechens eingesetzte Polizistinnen und Polizisten weder richtig in das Notrufsystem eingearbeitet noch darüber informiert worden waren, dass es auf der Wache keine Weiterleitung für nicht angenommene Notrufe gibt.
Offenbar hat die politische Führung in Wiesbaden bei der personellen Besetzung der Polizeistation Hanau 1 seit der Terrornacht auch nur kosmetische Veränderungen vorgenommen. In den fünfDienstgruppen soll die Soll-Stärke erst in diesem August von sieben auf acht Schutzleute angehoben werden. Allerdings werden im Ausschuss auch Zahlen bekannt, dass die Ist-Stärke in den beiden vergangenen Jahren jeweils deutlich im Minus gewesen ist.
Bereits im Juli 2021 hatte sich ein leitender Beamte anonym zu Wort gemeldet und harsche Kritik geübt: „Dass für eine Stadt wie Hanau netto nur zwei Streifen zur Verfügung stehen, ist nicht weiter hinnehmbar.“ Für die Hanauer Innenstadtwache müsste die Soll-Stärke seiner Meinung nach pro Schicht bei „zehn bis zwölf voll ausgebildeten Polizisten“ liegen.
Ans Licht gekommen ist das Chaos durch die Ermittlungen zum Mord an Vili Viorel Paun. Er folgte am 19. Februar 2020 dem Täter und wählte – das belegt die Auswertung seines Handys – dreimal vergeblich die 110. Am zweiten Tatort wurde er erschossen. Aufgrund des Personalmangels konnte die allermeiste Zeit über nur eine Beamtin Notrufe entgegennehmen, der zweite Annahmeplatz blieb leer.
Die Staatsanwaltschaft stellte viele Hinweise auf ein Organisationsverschulden beim Notruf fest, aber keinen hinreichenden Verdacht auf fahrlässige Tötung. Sie führte etwa an, dass nicht sicher sei, ob der 22-Jährige Warnungen befolgt und die Fahrt abgebrochen habe. Sein Vater, das hat er nach dem Ausschuss am Montag gegenüber der „Frankfurter Rundschau“ erklärt, ist davon überzeugt. „Die Wahrheit ist einfach: Wenn mein Sohn beim Notruf durchgekommen wäre, hätte er der Polizei wichtige Informationen liefern können. Und er selbst hätte überlebt.“
Informationen
Der Hanau-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags tritt nach der Sommerpause wieder am Montag, 5. September, zusammen. Dann sollen weitere Beamte des Polizeipräsidiums Südosthessen vernommen werden.
Von Yvonne Backhaus-Arnold und Thorsten Becker