Kritik an Verfahren zu Notausgang: Hinterbliebene legen Beschwerde gegen eingestellte Ermittlungen ein

Ein neu erstelltes Gutachten hat im Auftrag der Initiative 19. Februar die Situation mit dem Notausgang in der Arena-Bar untersucht. Die Tatortaufnahme wirft weiter Fragen auf.
Hanau – Tatortbefundberichte haben in Strafverfahren eine große Bedeutung. Wenn es zu einer Hauptverhandlung kommt, sind sie wichtige Beweismittel, auch weil die Dokumente vergleichsweise objektiv sind und oft kurz nach der Tat entstehen. Im Bericht zum zweiten Tatort des rassistischen Anschlags von Hanau, der Arena-Bar mit angrenzendem Kiosk, steht:
„Betritt man die Bar durch die Eingangstür, so befinden sich linksseitig vier Automaten, geradeaus gelangt man zu einem Lagerraum von welchem zwei weitere Türen abgehen. Diese zwei Türen waren jedoch bei der Tatortaufnahme verschlossen.“ Eine davon war der Notausgang.
Die beiden Sätze sind aber so gut wie wertlos geblieben. Die Staatsanwaltschaft, die nach einer Anzeige von Opfer-Angehörigen und Überlebenden wegen des Vorwurfs eines bewusst verschlossenen Notausgangs und fahrlässiger Tötung ermittelte, stellte das Verfahren im August 2021 ein – mangels hinreichenden Tatverdachts. So sei zum Beispiel aufgrund widersprüchlicher Zeugenaussagen unklar, ob die Tür am Abend des 19. Februar 2020 tatsächlich zugesperrt war.
Anschlag vom 19. Februar in Hanau: Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung eingelegt
Inzwischen hat Rechtsanwältin Antonia von der Behrens Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung eingelegt. Jetzt entscheidet die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt, ob die Ermittlungen doch fortgesetzt werden. Die Betroffenen fordern aufzuklären, ob der Notausgang an jenem Abend und/oder grundsätzlich verschlossen war. Sie sehen eine ganze Reihe von Auffälligkeiten in den bisherigen Aussagen und Ergebnissen. Etwa dass Zeuginnen und Zeugen, die dem Betreiber nahestünden, konform aussagten, die Tür sei immer offen gewesen. Das widerspreche sogar der Aussage des Chefs, laut der er manchmal selbst abschloss, weil Gäste durch die Tür gegangen seien, um draußen zu rauchen. Dies, argumentiert der Rechtsbeistand der Hinterbliebenen, sei in einer Raucherbar allerdings auch nicht plausibel.
In der Arena-Bar wurden zwei der neun Opfer ermordet: Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtovic. Said Etris Hashemi, Said Nesars älterer Bruder, wurde lebensgefährlich verletzt, ein weiterer junger Mann schwer. Sie hatten hinter einer Säule Schutz gesucht, rannten nicht in Richtung Notausgang – weil nach Angaben von Said Etris Hashemi und weiteren Zeugen bekannt war, dass die Tür stets versperrt gewesen sei.
Ein Vorwurf lautete, es habe vermutlich Absprachen mit der Polizei gegeben, damit diese bei Razzien hinten nicht sichern musste. Der Betreiber hat diesen und andere Vorwürfe zurückgewiesen, ebenso wie die Polizei.
Staatsanwaltschaft: Ermittlungen zum Anschlag vom 19. Februar in Hanau seien sehr sorgfältig gewesen
Neu entfacht wurde die Debatte durch ein im Auftrag der Initiative 19. Februar erstelltes Gutachten der Forschergruppe Forensic Architecture (FA), dessen Resultate Said Etris Hashemi den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag übergab.
Der Untersuchung zufolge, die auf einer Rekonstruktion basiert, hätten sich mindestens vier, wahrscheinlich sogar fünf Bar-Gäste retten können, wenn sie die Nottür angesteuert hätten und sie offen gewesen wäre. Damit widersprach FA der Staatsanwaltschaft, nach deren Auffassung die Zeit für eine Flucht möglicherweise nicht gereicht hätte.
Die Behörde hat bereits 2021 Kritik zurückgewiesen: Die Ermittlungen seien sehr sorgfältig gewesen und in einer langen Presseerklärung transparent gemacht worden: Ein Teil der Zeugen habe bestätigt, dass die Fluchttür immer zu gewesen sei, laut anderen ließ sie sich jedoch zumindest teilweise öffnen, so die Staatsanwaltschaft. Sie verweist darüber hinaus auf eine Durchsuchung Ende 2020, bei der die Tür erst mit erheblicher Kraft habe geöffnet werden können, weil sie offenbar geklemmt habe. Es sei aber nicht sicher, ob dies am 19. Februar ursächlich für die Morde in der Bar war. Die Ermittler, die den Tatort inspizierten, hätten nicht mehr sagen können, wie der Zustand der Tür geprüft wurde. Für eine Zusammenarbeit des Betreibers mit der Polizei wiederum seien keine Belege gefunden worden, auch nicht auf seinen Handys.
Anschlag vom 19. Februar in Hanau: Tatortaufnahme wirft Fragen auf
Nach Informationen unserer Zeitung gibt es weitere Aspekte, die Fragen aufwerfen. Dazu gehören die Angaben von zwei für den Tatort zuständigen Beamten. Einer von ihnen sagte später aus, die Tatortaufnahme habe lediglich einem Überblick dienen sollen und sei nicht mit derselben Gründlichkeit wie sonst durchgeführt worden, auch weil der Täter bereits bekannt und tot gewesen sei.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sie den Tatort aber bereits länger unter die Lupe genommen. Ermittler sollen auch bei eindeutig scheinenden Sachverhalten so gründlich wie bei zunächst unklaren vorgehen, wie in Fachliteratur, etwa des Bundeskriminalamtes, gefordert wird. Sie sollen in allen Fällen genauso gründlich notieren, skizzieren, fotografieren und sichern.
Einer der Ermittler war seit Jahrzehnten im Einsatz und wird polizeiintern wie extern als Experte geschätzt. Er habe sich auf die Leichen konzentriert, sagte er, der Kollege auf die Räumlichkeiten. Dieser gab an, es sei am Tatort unübersichtlich gewesen, doch am Ende der Begehung habe festgestanden, dass die beiden im Bericht erwähnten Türen zu waren. Hätte man sie öffnen können, wären ja die Räume dahinter ebenfalls fotografiert worden, so der Beamte.
Untersuchungsausschuss zum 19. Februar: Anzeige wegen des Notausgangs bereits erstattet
Von der Behrens und ihre Mandantinnen und Mandanten argumentieren bei ihrer Beschwerde auch mit der FA-Untersuchung. Zudem spreche wenig dafür, dass die Tür offen gewesen sei. Selbst wenn sie lediglich geklemmt habe, liege eine Pflichtverletzung vor, da keine Reparatur erfolgt sei.
Des Weiteren kritisieren sie, dass der Tatortbericht fast gar kein Gewicht habe und Zweifel daran gesät worden seien.
Bereits im Untersuchungsausschuss hatte Hamzas Vater Armin Kurtovic, der wegen des Notausgangs Anzeige erstattete, bemängelt, dass einige von ihnen angegebene Zeugen nicht befragt worden seien. Viele im Viertel hätten von der verschlossenen Tür gewusst. Bei einer Polizeikontrolle sei jemand direkt davor geschnappt worden, weil er nicht rausgekommen sei. Kurtovic will mit anderen Angehörigen und Überlebenden dafür kämpfen, dass das Verfahren nicht zu den Akten gelegt wird. (Gregor Haschnik)