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Letztes Wort im Prozess um Tod des vierjährigen Jan

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Von: Yvonne Backhaus-Arnold

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Die Staatsanwaltschaft Hanau hatte wegen gemeinschaftlichen Mordes Anklage gegen Claudia H. erhoben. Das Urteil soll am 4. Oktober fallen.
Die Staatsanwaltschaft Hanau hatte wegen gemeinschaftlichen Mordes Anklage gegen Claudia H. erhoben. Das Urteil soll am 4. Oktober fallen. © Arne Dedert/dpa

Landgericht. Saal 215. In den Zuschauerreihen sitzen gerade einmal vier Männer und Frauen. Claudia H. ist fast 20 Minuten vor Beginn der Verhandlung da. Sie nimmt auf der Anklagebank Platz. Die Frau mit den kurzen grauen Haaren und der Brille trägt einen grauen Blazer, eine lilafarbene Bluse, hat heute sogar Lippenstift aufgelegt. Ein Fernsehteam bringt sich in Position.

Hanau - H. greift zu einem roten Ordner aus Pappe, hält ihn sich vors Gesicht, legt ihn erst wieder ab, als die Frau vom Fernsehen zurück zu ihrem Platz geht. H. hat heute das letzte Wort. Im deutschen Strafprozess gebührt es dem Angeklagten in der Hauptverhandlung nach den Schlussvorträgen und vor der Urteilsfindung.

544 Tage saß Dr. Claudia H., die Mutter des vor 33 Jahren im Umfeld einer obskuren Sekte in der Weststadt getöteten Jan. H. (4) unter Mordverdacht in Untersuchungshaft. Im September 2020 war sie während einer Geschäftsreise in Leipzig aufgrund eines Haftbefehls festgenommen worden. Im September 2021 begann der Prozess gegen H. Wenige Monate später hoben die Richter den Haftbefehl gegen die 61-Jährige auf. Es bestehe „kein dringender Tatverdacht“ mehr, dass H. gemeinschaftlich mit der Sektenanführerin Sylvia D. ihren Sohn ermordet habe, hieß es. Auch für eine Beihilfe zum Mord gebe es „keine gewichtigen Anhaltspunkte“, so die Vorsitzende Richterin. So habe es in dem Haus an der Keplerstraße „unzweifelhaft Kindesmisshandlungen gegeben“, jedoch könne bislang nicht mit der juristisch nötigen Sicherheit festgestellt werden, dass H. alles gewusst habe, noch könne ihr eine „direkte Beteiligung nachgewiesen“ werden.

H. war auf freiem Fuß, der Prozess ging weiter. Bei der Verlesung der Plädoyers vor wenigen Tagen forderten die beiden Verteidiger einen Freispruch, die Staatsanwälte eine lebenslange Freiheitsstrafe.

Es sei unendlich viel gesprochen worden, beginnt H. ihr letztes Wort. Und sie habe unendlich viel über sich hören müssen. „Ich bin froh, dass das Verfahren zu Ende ist“, sagt sie und blickt Susanne Wetzel an. Sie habe, so die 61-Jährige, am 17. August 1988 ihr einziges Kind verloren. Allein der Glaube an Gott und ihre Arbeit hätten ihr geholfen, den Alltag zu überstehen. „Ich habe gedacht, ich hätte gelernt, damit zu leben, aber dem war nicht so.“ Die eineinhalb Jahre Haft und den zwölf Monate andauernden Prozess beschreibt Claudia H. als „schlimme und sehr schmerzhafte Erfahrung“. Sie habe die Akte gelesen und sich nicht wiedererkannt. „Ich war entsetzt, was aus mir und meinem Leben gemacht wird. Hier haben Menschen über mich geurteilt, die mich gar nicht kannten.“

Nach Entlassung aus der U-Haft habe sie eine Therapie beginnen müssen. Ihren Sohn habe sie nicht richtig verstanden, ihn nicht richtig geschützt. „Ich bin eine wehrhafte und durchsetzungsstarke Frau, keine willenlose Jüngerin von Sylvia D.“ Dass sei ein anmaßender Vorwurf, der nichts mit der Realität zu tun habe.

Das Landgericht hatte die damals 73 Jahre alte D. am 24. September 2020 wegen Mordes an dem vier Jahre alten Jan zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Richter sahen es nach einem einjährigen Prozess als erwiesen an, dass D. den Jungen am 17. August 1988 in einem über dem Kopf verschnürten Leinensack ersticken ließ, obwohl sie gewusst habe, dass er in Lebensgefahr gewesen sei und seine Schreie gehört habe. D. habe seinen Tod nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern vorsätzlich und aus niedrigen Beweggründen gehandelt. Der Junge wurde ohnmächtig und erstickte an seinem Erbrochenen. Knapp ein dreiviertel Jahr nach dem Mordurteil des Landgerichts hob der Bundesgerichtshof die Entscheidung auf. Das Verfahren ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine Schwurgerichtskammer des Landgerichts Frankfurt zurückverwiesen worden.

H. sagt gestern über D. nur, dass sie ihr vertraut habe. Sie sagt nichts zu den Vorwürfen, dass sie Jan an jenem August-Tag 1988 eingeschnürt und mit D. allein gelassen haben soll. Sie sagt nichts mehr zu dem Tagebucheintrag, den sie nur wenige Stunden nach dem Tod ihres Sohnes geschrieben hatte. Hier heißt es: „Der Alte (Gott, Anm. d. Red.) hat gestern unseren Jan geholt.“ Sie bedauert darin lediglich, dass die ganzen Jahre über versucht worden sei, Jans „Wahn zu bremsen“, und bezeichnet ihren eigenen Sohn als „sadistisch“.

Im ersten Prozess gegen Sylvia D. hatte sich H. als Zeugin völlig emotionslos verhalten und in den mehrstündigen Vernehmungen Jan nicht beim Namen genannt – sondern nur von „dem Kind“ gesprochen. Zuletzt hatte die Angeklagte sich von diesen Formulierungen distanziert, genauso wie von D.

„Jan ist mir heute noch nah. Ich bin überzeugt, dass er wusste, dass sein Papa und ich ihn geliebt haben“, sagt Claudia H. am Ende des wenige Minuten dauernden letzten Wortes. Ihre Stimme ist klar, nüchtern, als sie mit der Frage schließt: „Ich habe mich immer gefragt: Warum glaubt mir keiner?“

Das Urteil wird am Dienstag, 4. Oktober, im Saal 215 des Hanauer Landgerichts gesprochen. Die Verhandlung ist öffentlich.

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