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Nach dem Freispruch von Hanau: „Moralische Verantwortung bleibt“

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Von: Thorsten Becker

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Verlässt nach einem Jahr den Hanauer Schwurgerichtssaal mit einem Freispruch: die Mutter des 1988 getöteten Vierjährigen.  Archivfoto: Mike Bender
Verlässt nach einem Jahr den Hanauer Schwurgerichtssaal mit einem Freispruch: die Mutter des 1988 getöteten Vierjährigen.  Archivfoto: Mike Bender © -

Hanau – Es ist keine Überraschung gewesen, die das Landgericht Hanau verkündet hat: Freispruch für die Mutter des vor 34 Jahren im Umfeld einer obskuren Sekte in der Hanauer Weststadt in einem Sack erstickten vierjährigen Jan.

Doch Susanne Wetzel, die Vorsitzende der Schwurgerichtskammer, überrascht mit ihrer rund 45-minütigen Urteilsbegründung, in der sie einerseits die Gründe für das Urteil sehr sachlich ausführt, andererseits die Staatsanwaltschaft mit sehr harschen und emotionalen Worten angreift und zudem behauptet, die Medien würden sich von der Hanauer Anklagebehörde „instrumentalisieren lassen“. Am Ende der rund ein Jahr dauernden Hauptverhandlung unterscheiden die fünf Richter sehr scharf zwischen „forensischer Wahrheit“ und moralischer Verantwortung.

Entschädigung für 545 Tage Untersuchungshaft

Nach zahlreichen Zeugenaussagen hat die Kammer am Ende „erhebliche Zweifel an der Schuld“ der heute 61-Jährigen, die bis Mai dieses Jahres 545 Tage in Untersuchungshaft gesessen hatte. Dafür wird ihr nun Haftentschädigung zugesprochen. Der Vorwurf, die Angeklagte habe zusammen mit der mutmaßlichen Sektenanführerin Sylvia D. ihren Sohn aus niedrigen Beweggründen ermordet oder dazu Beihilfe geleistet, sei nicht zu beweisen gewesen. So seien zahlreiche Details der Anklage „nicht erwiesen“.

Die Angeklagte hatte im Dezember vergangenen Jahres den Tod ihres Sohnes bedauert, eine Beteiligung daran jedoch abgestritten. Sie hatte eingeräumt, das Kind in einen Schlafsack gelegt, diesen jedoch nicht verschnürt zu haben. In dem Mammutprozess war die Frau, die im ersten Prozess als Zeugin die zunächst wegen Mordes verurteilte, mutmaßliche Sektenanführerin Sylvia D. als „kinderlieb“ und „selbstlos“ bezeichnet hatte, deutlich auf Distanz gegangen. Die Begründung: „Ich war die ganze Zeit im festen Glauben, dass Sylvia nichts mit dem Tod von Jan zu tun gehabt hat.“

Die heute 61-Jährige hatte beteuert, ihren Sohn „nie misshandelt“ zu haben, räumte jedoch ein, dass sie sich „nicht genug gekümmert“ und eine „Mitschuld an seinem Tod“ habe. Die Kammervorsitzende verweist mehrfach darauf, dass es sich nicht um den Prozess gegen D. handele, sondern dies ein eigenständiges Strafverfahren gegen die Angeklagte H. sei. So spreche nach der Beweisaufnahme einiges dafür, dass D. die alleinige Täterin gewesen sein könnte. So habe D. die „Kontrolle über die Gruppe ausgeübt“.

Vorsitzende: Freispruch unumgänglich

Daher sieht es die Kammer als sehr wahrscheinlich an, dass D., die alleine auf Jan aufpassen sollte, den Sack nachträglich verschnürt und das Badezimmerfenster geschlossen habe. Ebenso habe es eindeutige Anzeichen dafür gegeben, dass die Polizei 1988 an der Nase herumgeführt worden sei, um die wahren Hintergründe von Jans Tod zu vertuschen. So sei der Schlafsack beiseitegeschafft und das Kind in den ersten Stock gelegt worden. Aber auch dies sei kein Beweis für eine Täterschaft der Mutter, betonte Wetzel. Daher sei aus juristischer Sicht ein Freispruch unumgänglich.

Doch die Vorsitzende wendet sich auch direkt an die Angeklagte und nennt „Misshandlung Schutzbefohlener“, „Verletzung der Fürsorgepflicht“ und sogar „fahrlässige Tötung“ als Straftaten, die durchaus in Betracht gekommen wären, wenn sie nicht nach 34 Jahren bereits verjährt wären.

Die Angeklagte müsse sich fragen lassen, weshalb sie ihren Sohn „nicht aus den Fängen der Frau D.“ befreit habe. Die Richter seien überzeugt gewesen, dass Jan in den letzten beiden Jahren „ein Martyrium“ durchlebt habe. Wetzel: „Es bleibt bei der moralischen Verantwortung.“

Scharfe Kritik der Richterin an der Staatsanwaltschaft

Die Schwurgerichtskammer entspricht mit dem Urteil den Forderungen der beiden Verteidiger Wiebke Otto-Hanschmann und Thomas Scherzberg, die Freispruch für ihre Mandantin beantragt hatten. Die beiden Staatsanwälte Dominik Mies und Florian Hübner hatten dagegen eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes gefordert. Ungewöhnlich scharf kritisiert die Vorsitzende zuvor die Staatsanwaltschaft. Diese sei ihrem Grundsatz, der Wahrheit verpflichtet zu sein, „nicht im erforderlichen Maße nachgekommen“. Die Ankläger hätten nach dem Motto gehandelt, dass „nichts sein kann, was nicht sein darf.“ Der Rechtsgrundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ sei missachtet worden.

Vor allem kritisiert Wetzel den „hektischen Befangenheitsantrag“ der Staatsanwaltschaft gegen die Kammer und nennt diesen „historisch“. Darin war der Vorwurf gegen die Berufsrichter erhoben worden, diese wüssten bereits länger über den Ausgang des Revisionsverfahrens gegen D. vor dem Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe. Wetzel wertet das als „absurd“ und verweist es auf die Ablehnung des Antrags .

Oberstaatsanwalt Dominik Mies will nach der Urteilsbegründung zu den Vorwürfen des Gerichts „keine öffentliche Stellungnahme“ abgeben. Er bezeichnet die Entscheidung als „schwer nachvollziehbar“ und kündigt die umgehende Revision an. Strafverteidigerin Otto-Hanschmann ist ganz anderer Meinung: „Dieser Freispruch ist die einzige rechtsstaatliche Konsequenz“, sagt die Anwältin in die Kameras und verweist auf die „unschuldig erlittene Untersuchungshaft ihrer Mandantin. Den Staatsanwälten wirft sie „überbordenden Verfolgungseifer“ vor.

Zweiter Prozess gegen mutmaßliche Sektenanführerin in Frankfurt

Mit dem Freispruch ist die juristische Aufarbeitung des Todes von Jan H, noch nicht beendet. Denn die 75-jährige D. war im September 2020 wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im Mai hatte der BGH das Urteil jedoch aufgehoben. Der erneute Prozess soll nun vor der 21. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankfurt verhandelt werden. Ein Termin für den Auftakt des Verfahrens steht derzeit noch nicht fest. Der Fall war 1988 von Polizei und Staatsanwaltschaft als Unfall eingestuft und zu den Akten gelegt worden. Erst 2015 war das Geschehen neu untersucht worden, nachdem Sektenaussteiger ausgesagt hatten. (Von Thorsten Becker)

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