Hinterhalt in der Hanauer Geistersiedlung

Die Stadt streitet sich mit dem Insolvenzverwalter, seit Jahren passiert nichts. Die Wege sind zugewuchert, Rollläden und Garagentore eingedrückt, Müll liegt überall herum und die Eingangstüren sind aus robustem, blankem Metall, obwohl dort schon lange kein Mensch mehr wohnt.
Hanau - Die verlassene „Annasiedlung“, seit Jahren leer stehende Wohnhäuser zwischen Kinzigheimer Weg, Westerburgstraße (B43) und besagter Annastraße, ist schon tagsüber ein Ort, an dem man sich nicht so gerne aufhalten möchte. Wie es wohl im Dunkeln dort ist? Einen Einblick in das nächtliche Treiben in dieser Geistersiedlung, die locker als „kleine Hanauer Bronx“ durchgehen könnte, gibt es derzeit vor der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts. Dort wird ein Fall verhandelt, der aus einem Drehbuch stammen könnte. Ein filmreifer Überfall im Drogenmilieu, bei dem am Ende ein Knie zerschossen wird.
Schuss ins Knie - letzte Warnung?
Dr. Katharina Jost, die Vorsitzende Richterin, hat zwar die Aufgabe, als „Regisseurin“ die Verhandlung zu leiten, mit einem Fernsehkrimi hat der Inhalt der Akten aber nichts zu tun. Das ist Realität, mitten in Hanau. Am zweiten Verhandlungstag richten sich daher alle Augen auf den „Hauptdarsteller“ Sercan T. (33), der zusammen mit einem Komplizen Herrn A. in eine Falle gelockt, mit einem Elektroschocker sowie einem Schuss ins Knie kampfunfähig gemacht und anschließend gefesselt und geknebelt haben soll.
Hanauer Gericht: Hauptangeklagter redet sich um Kopf und Kragen
T. scheint seinen Text recht gut gelernt zu haben. Er rasselt eloquent herunter, woher und warum er A. schon seit Jahren kennt. Aus Drogengeschäften. Marihuana. Diese habe er „gleich in größeren Mengen gekauft“, erzählt T. ohne Punkt und Komma weiter. Die Drogen habe er natürlich auch „anderen mitgebracht“. Immer wieder wird T. jedoch jäh in seinem Redefluss gebremst. Von seinen beiden Verteidiger Ariane Iversen und Ralf Müller-Lühmann , die fast Schnappatmung bekommen, während die Vorsitzende milde lächelt. T. scheint zwar offen und ehrlich zu sein, redet sich aber um Kopf und Kragen.
So gesteht er, A. in einen Hinterhalt gelockt zu haben, weil er sich an ihm rächen wollte. „Er hatte mir Typen von den Hell"s Angels geschickt, die mir mit einem Baseballschläger die Hand gebrochen haben.“ Das Motiv ist also erklärt. Die Hintergründe erklären sich von selbst: Streit um Drogen, die der Lastwagenfahrer wohl schon über eine längere Zeit neben seinen „normalen“ Auslieferungen vertickt haben dürfte.
Auf dunklem Weg die Falle aufgebaut
Warum er diese „dunkle Gegend“ ausgesucht hat, erklärt T. ebenfalls: „Die kenne ich – bin früher für den Schwab-Versand gefahren.“ Dass A. nicht nur überfallen und ausgeraubt werden sollte, gesteht der 33-Jährige unumwunden. Ein Auto steht bereit, die Tür zur Rückbank ist schon geöffnet. Doch dann kommt plötzlich ein Zeuge, die beiden Täter flüchten.
Leider driftet der filmreife, echte Kriminalfall zum Schluss des Verhandlungstags zur einer Märchenstunde ab. Ohne viel Fantasie ist zwar zu erkennen, dass ein „Schuss ins Knie“ in solchen Kreisen meist als „allerletzte Warnung“ zu verstehen ist. Doch T. meint, dass sich „der Schuss aus Versehen“ gelöst habe. „Ich wollte ihn nicht verletzen.“
Eigentlich habe er A. nur erschrecken wollen. „Ich hatte geplant, in die Luft zu schießen“, meint er plötzlich. Doch das glaubt ihm niemand im Saal, weil alle wissen: Die Browning hatte einen Schalldämpfer – damit in der Geistersiedlung und weiter entfernt niemand etwas mitbekommt. Das hat T. schon zuvor erzählt, denn nach dem Schuss sei der Schalldämpfer „plötzlich abgefallen“. Bevor die Anwälte wieder die Luft anhalten müssen, ist der Prozesstag beendet. Die Fortsetzung folgt... (Von Thorsten Becker)