Zeuge: Kinder „wie der letzte Dreck“ behandelt

Er hat vor mehr 33 Jahren mitbekommen, wie ein kleiner Bub im Haus der mutmaßlichen Sekte in Hanau gestorben ist. Vor dem Hanauer Landgericht macht der Mann zum zweiten Mal seine Aussage als Zeuge. Denn es geht um Mord.
Hanau - Am Tag, an dem der kleine Jan H. (4) in der Weststadt gestorben ist, war dieser Zeuge gerade einmal neun Jahre alt. Mehr als 33 Jahre danach erinnert sich der jüngste Sohn der mutmaßlichen Sektenanführerin Sylvia D. schemenhaft an das, was am 17. August 1988 im Haus seiner Eltern passiert ist. „Mein Vater hat versucht, Jan im Erdgeschoss zu reanimieren.“
Dann sei er zusammen mit seinem fünf Jahre älteren Bruder aufs Zimmer geschickt worden. „Wir haben Risiko gespielt“, sagt er Landgerichtspräsidentin Susanne Wetzel, der Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer, vor der sich Claudia H., die Mutter von Jan, seit Mitte September wegen Mordes an ihrem Sohn verantworten muss (wir berichteten).
Nicht verblasst ist die Erinnerung des damaligen Grundschülers an seine Schuldgefühle. Irgendwann habe er mitbekommen, dass Jan gestorben ist. „Ich habe mich schuldig gefühlt“, sagt er, weil er mit seinem Bruder das damals sehr populäre Strategiespiel gespielt habe, während Jan tot im Haus lag. Was der heute 42 Jahre alte Zeuge berichtet, stimmt mit dem überein, was er gegen seine eigene Mutter ausgesagt hatte. An den Todestag erinnert er sich ganz sicher: Er ist an diesem Tag zusammen mit seinem älteren Bruder im Haus. Und mit seiner Mutter Sylvia, die eigentlich auf Jan aufpassen sollte. Doch der Vierjährige liegt zu diesem Zeitpunkt im Bad, in einem Leinensack – und erstickt qualvoll an Erbrochenem.
Zeuge: Als Neunjähriger musste er seine zehn Jahre älteren Adoptivgeschwister einsperren
Der 42-Jährige wiederholt seine Aussage von vor fast zwei Jahren: Seine Mutter habe die sektenähnliche Gemeinschaft angeführt und sich als „einzig wahrer Mensch auf Erden“ gefühlt. Das sei so weit gegangen, dass die ihr offenbar hörige Gruppe nach Prophezeiungen von D. vor einem angeblich bevorstehenden Einmarsch der Roten Armee „auf der Flucht vor den Russen“ gewesen und wochenlang durch Europa gefahren sei. „Das ging bis Gibraltar“. Er und sein Bruder seien anfangs als leibliche Kinder „die Auserwählten gewesen“. Die anderen, die Adoptivkinder, seien „wie der letzte Dreck“ behandelt worden. „Die waren fast zehn Jahre älter – und ich musste sie auf ihrem Zimmer einsperren – das war schon krass.“ Kinder und Jugendliche seien tyrannisiert, abgeschottet und teilweise mit verschimmelten Lebensmitteln ernährt worden und hätten „Schläge, Tritte und Hiebe mit dem Kochlöffel“ ertragen müssen. Seine Mutter sei „unberechenbar“ gewesen.
Zeuge vor dem Hanauer Landgericht erinnert sich an die Schreie des Buben
Viele Erinnerungen habe er nicht mehr an Jan. Dass der Bub überhaupt geredet habe, daran kann er sich nicht erinnern. „Aber ich weiß noch, wie sich seine Schreie angehört haben.“ Zudem sei der kleine „mit Essen gestopft“ worden. Er bestätigt außerdem, dass er mehrfach gesehen habe, dass Jan in einem Leinensack verschnürt im Bad gelegen habe. Und an der Begründung von Sylvia D., warum der Vierjährige gestorben sei, erinnert er sich ebenfalls: „Es hieß, er sei von den Bösen besessen, er sei die Reinkarnation Hitlers.“ Gott habe Jan „abgeräumt“, so die wörtliche Begründung. Die Vorsitzende will es genauer wissen und hakt nach. Vor allem, weil Claudia H. angegeben hatte, sie hätte von den Übergriffen auf die Kinder nichts mitbekommen. Der Zeuge reagiert fast schön empört: „Es fällt mir schwer, gleichzeitig zu lachen und zu weinen, wenn ich das höre.“
Claudia H. verfolgt die Zeugenaussage ohne Reaktion. Die zeigt sie schon zu Beginn des Tages. Denn am kurzen Verhandlungstag zuvor sind ihre Tagebucheinträge erneut vor Gericht verlesen worden. Darin schreibt sie, rund 24 Stunden nach dem Tod ihres Kindes: „Der Alte hat gestern unseren Jan geholt.“ Wenig später schreibt sie, dass der Vierjährige „sadistisch“ gewesen sei. Nun, in der Untersuchungshaft, hat sie wieder geschrieben. Mehrere, von Hand geschriebene Seiten. Darin erklärt sie, dass es sie angeblich „unfassbar mitgenommen“ habe, dass ihre Tagebucheinträge als Beweismittel gegen sie verwendet werden könnten. Das Tagebuch sein „ein Ventil“ für sie gewesen. Die Einträge seien daher „kein Abbild der Beziehung zu meinem Sohn und der Liebe zu ihm“.
Wegen Mordes angeklagte Mutter distanziert sich von Hanauer Sekte
Und erneut versucht die Frau, die im ersten Prozess als Zeugin in diesem Saal gesessen und die später wegen Mordes verurteilte Sylvia D. als „kinderlieb“ und „selbstlos“ bezeichnet hatte, deutlich auf Distanz zu der mutmaßlichen Sektenführerin zu gehen. „Ich will Sylvia nicht mehr sehen, treffen oder hören.“ Selbst gegen „Nachrichten von Sylvia“, die sie offenbar in der U-Haft erreichen, „sträube“ sie sich. Die Begründung für den offenkundigen Sinneswandel liefert sie auch mit: „Ich war die ganze Zeit im festen Glauben, dass Sylvia nichts mit dem Tod von Jan zu tun gehabt habe.“ Claudia H. liest weiter vor: „Ich habe mein Kind nie misshandelt“, sagt sie und fügt später hinzu, dass sie sich „nicht genug gekümmert“ habe. Dann hält sie sich die Hände vors Gesicht. Verteidigerin Wiebke Otto-Hanschmann verliest den Rest des handschriftlichen Briefs in dem vor allem eine Passage überrascht: Die Angeklagte räumt eine „Mitschuld an seinem Tod“ ein. Die Kammer nimmt die Erklärung zur Kenntnis. Und die Vorsitzende kündigt an: „Dazu gibt es noch jede Menge Fragen.“ (Von Thorsten Becker)