An diesem Freitag wirkt Serpil Unvar müde. Und verletzlich. Vielleicht, weil sie die Geschichte vom Tod ihres ältesten Sohnes Ferhat schon so oft erzählt hat in den vergangenen 23 Monaten. Vielleicht, weil sie all die Fragen schon so oft gestellt und keine Antworten bekommen hat.
Nicht vom Generalbundesanwalt, nicht von der hessischen Polizei, nicht von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier oder der ehemaligen Justizministerin Christine Lambrecht, die zum Treffen mit den Familien ins Nachbarschaftshaus im Tümpelgarten gekommen war. Sie alle haben zugehört, sich eine kurze Notiz gemacht, aber Antworten gab es keine. Dabei hat Serpil Unvar so viele Fragen. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier habe bei einem Treffen auf den Anschlag in Volkmarsen verwiesen und darauf, dass er noch Schlimmeres gesehen habe. Ernst genommen gefühlt habe sie sich von ihm nicht.
Ferhat ist das älteste von vier Geschwistern, ein starker junger Mann, Vaterersatz für die drei jüngeren Geschwister. Wenige Tage vor dem Anschlag schließt er seine Ausbildung zum Heizungstechniker ab.
Gegen 22 Uhr will Serpil Unvar schlafen gehen. „Da kam meine Tochter zu mir und hat mich gefragt, ob Ferhat zu Hause ist. Jemand hatte ihr geschrieben, dass ihr Bruder angeschossen wurde“, erzählt die 47-Jährige am Freitag im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags.
„Obwohl der Tatort nur 150 Meter von unserem Zuhause entfernt ist, bin ich mit dem Auto hingefahren. Da war es kurz nach 22 Uhr. Die Polizei hat mich nicht zum Kiosk gelassen. Ich habe sie ständig gefragt, ob Ferhat dort ist. Ich habe Bilder von ihm gezeigt. Irgendwann sagte ein Polizist zu mir: ‘So einer liegt nicht dort.’“ Serpil Unvar hat Hoffnung, telefoniert alle Krankenhäuser in der Umgebung ab. In einem Bus werden sie, ihre Tochter und eine Freundin in die Turnhalle in Hanau-Lamboy gebracht. Sechs Stunden warten sie dort, während Ferhats Leichnam im Kiosk liegt – bis zum nächsten Abend. Immer wieder fragt sie und bekommt keine Antworten. „Um 6.30 Uhr wurden die Namen der Opfer vorgelesen. Der letzte Name war Ferhats.“
„Warum durfte ich mich nicht von ihm verabschieden? Wer hat das entschieden?“, fragt sie im Hessischen Landtag. Und sie fragt nach Ferhats letzten Minuten. Aufzeichnungen einer Videokamera belegen, dass der 23-Jährige im Kiosk von Schüssen getroffen wurde, sich aufrichtete und hinter den Tresen ziehen konnte, Polizisten über ihn stiegen, aber seinen Puls nicht prüften. Hat er nach den Schüssen wirklich nur noch eine Minute gelebt, so wie es der Rechtsmediziner sagt? Oder hätte er gerettet werden können? „Die Polizisten konnten nicht wissen, dass er schon tot war“, sagt Serpil Unvar. Menschenunwürdig sei dieses Verhalten. Und eine Verletzung der Amtspflicht. Nein, sie habe sich nicht gut behandelt gefühlt von der Polizei. Und sie habe das Vertrauen in sie verloren.
Serpil Unvar lebt mit ihren drei Kindern (heute 21, 19 und neun Jahre alt) nach wie vor in Kesselstadt, 70 Meter entfernt liegt das Haus des Täters, in die andere Richtung der Kurt-Schumacher-Platz. Sie will hierbleiben, weil Ferhat hier gelebt hat. Ihre Tochter hat Abitur gemacht, ihr Sohn studiert. Sie alle schmerzt der Verlust. Sie kämpfen mit Schlaflosigkeit und Alpträumen.
Serpil Unvar hat als Journalistin für eine kurdische Zeitung gearbeitet – bis zum 19. Februar 2020. An Ferhats Geburtstag, dem 14. November 2020, hat sie die Bildungsinitiative ins Leben gerufen. Am Anfang seien sie belächelt und nicht ernst genommen worden, eine Mutter, ein paar Jugendliche. Heute sei das nicht mehr so. „Wir haben Kraft, ich habe Kraft“, sagt Serpil Unvar im Gespräch mit unserer Zeitung.
Workshops wollen sie durchführen, eine Beratungsstelle für Mütter schaffen… so viele Ideen. Im November wurde die Initiative mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet. „Es ist kein Happy End“, sagt sie im Untersuchungsausschuss, „es ist der Beginn von etwas Neuem, das aus Schmerzen entstanden ist“.
Von Yvonne Backhaus Arnold