Sicherheit in der Nacht erhöhen

Das Pflegezentrum Mainterrasse hat einen Schritt in Richtung digitale Pflege gemacht. Künstliche Intelligenz soll den Nachtdienst sicherer für schwer Demenzkranke und deren Pflegekräfte machen.
Steinheim – Es ist 2 Uhr nachts in der Villa del Sol, einem Haus des Pflegezentrums Mainterrasse. Der digitale Assistent von Nemlia meldet an die Nachtwache, dass ein Bewohner soeben sein Zimmer verlassen hat. Sofort schaut eine Pflegekraft nach. Ein Demenzkranker hat sich verirrt und wird schnell zurückgebracht. So oder so ähnlich sieht die Arbeit mit den Sensorsystemen, die eine Künstliche Intelligenz besitzen, im Hanauer Pflegezentrum aus. Geschäftsführer Manfred Maaß erzählt, wie das Experiment der digitalen Pflege anläuft und ob die Pflegekräfte eine Arbeitsentlastung spüren.
In der Villa del Sol wohnen schwer demente Menschen, deren Bewusstsein im Hier und Jetzt gestört ist: „Sie leben im Kopf zum Beispiel in der Vergangenheit, aber ihre Gefühle sind noch voll ausgeprägt“, sagt Maaß. Vom Aufstehen übers Laufen und Haare kämmen brauchen sie viel Unterstützung. Vor allem haben diese Menschen ein großes Bedürfnis nach Ruhe: „Unsere Pflegekräfte kontrollieren jedoch nachts alle zwei Stunden die Zimmer und schauen, ob alles in Ordnung ist.“ Das ist wichtig, damit Bewohner, die nachtaktiv sind oder im Dunkeln stürzen, schnelle Hilfe bekommen.
Neben den Kontrollgängen kamen bisher auch Mattensysteme zum Einsatz. Diese Matten wurden vor die Zimmertüren gelegt. Wenn eine Person das Zimmer verließ, wurde der Notruf aktiviert. Allerdings reagierte das System nur, wenn ein elektronischer Chip, der in den Schuhen eingelegt war, auf die Matte traf. Lief der Bewohner barfuß, wurde nichts erfasst. Auch konnte das System nicht feststellen, ob jemand aus dem Bett gefallen war oder sich übermäßig viel unruhig im Zimmer bewegte.
Deswegen läuft seit vier Monaten ein Experiment in der Villa del Sol. In 15 Zimmern werden digitale Assistenten von Nemlia eingesetzt: „Das sind keine Roboter, keine Überwachungskameras, sondern Sensorsysteme mit Künstlicher Intelligenz“, sagt der Geschäftsführer. Wie Bewegungsmelder messen sie die Bewegungen im Raum. Pro Zimmer liegen fünf bis sieben Sensoren auf dem Boden, an der Wand und an der Tür. Sie erkennen, ob der Bewohner hinfällt, aus dem Bett fällt, hektisch herumläuft oder das Zimmer verlässt. Wenn sie eine Besonderheit erfassen, melden sie dies innerhalb weniger Sekunden digital auf einem sogenannten Dashboard an die Nachtwache. So kann die Pflegekraft sich zeitnah um den Bewohner kümmern, ihn versorgen und beruhigen.
Durch diese digitalen Assistenten fallen die nächtlichen Kontrollgänge weg. „Die Menschen werden nicht mehr von dem Geräusch der auf- und zugehenden Tür geweckt“, sagt Maaß. Die Nachtruhe wird nicht mehr gestört und sie können durchschlafen. So steigt die Lebensqualität der Bewohner: „Man sieht, dass sie tagsüber ausgeschlafen sind.“ Auch für die Pflegekräfte werden die Nächte ruhiger. Sie müssen nicht mehr jedes Zimmer überprüfen. Ein weiterer Vorteil ist die gestiegene Sicherheit: „Bei den bisherigen Kontrollgängen konnte es vorkommen, das jemand schon eine Stunde lang auf dem Boden lag. Die Sensoren hingegen erfassen die Bewegungen sekundenschnell“, sagt Maaß. Die digitalen Assistenten von Nemlia sind noch in der Experimentier- und Probephase. Danach sollen die nächtlichen Helfer jedoch in der Villa del Sol bleiben. Manfred Maaß plant sogar, die Sensorsysteme zukünftig auch in der ambulanten Pflege einzusetzen. „Im häuslichen Umfeld kann der digitale Assistent zusätzlich zum Erfassen der Bewegungen wie ein Alexa-Lautsprecher mit den Bewohnern interagieren.“ So kann er fragen, ob es der Person gut geht.
Erhält er keine Antwort, kann er die Situation reaktionsschnell einschätzen. Er entscheidet dann, ob er Angehörige informiert oder sofort einen Notarzt alarmiert.
In anderen Ländern wie Dänemark und Norwegen ist digitalisierte Pflege schon wesentlich mehr verbreitet als in Deutschland. Beispielsweise gibt es dort sogenannte KI-basierte Nobi-Leuchten, die nicht nur Stürze erkennen, sondern auch das Schlafverhalten analysieren, um ein erhöhtes Sturzrisiko vorherzusagen. In japanischen Pflegeheimen spielt der Unterhaltungsroboter Parlo Rhythmusspiele oder Rätselraten mit den Bewohnern, während Geh- und Aufstehassistenten den Menschen bei körperlichen Herausforderungen helfen. Der Geschäftsführer der Mainterrasse findet: „In Deutschland muss jetzt auch mal ein Anfang gemacht werden.“
Auch wenn die Kontrollgänge wegfallen, ersetzt das System bislang keine Pflegekräfte: „Wir haben immer noch genauso viele Mitarbeiter im Einsatz wie vorher.“ Die Künstliche Intelligenz ersetze keine menschliche Fürsorge, sondern erleichtere ebendiese, indem sie mitteilt, an welcher Stelle des Hauses die Pflegekraft gerade dringend gebraucht wird. (von Lisa Mariella Löw)