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Wenn plötzlich alles verschwimmt

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Von: Lisa Mariella Löw

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Mit Verdunklungsbrille und Langstock laufen: Anlässlich des Europäischen Protesttages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung können Sehende den Weg zum Forum aus Perspektive eines Sehblinden wahrnehmen.
Mit Verdunklungsbrille und Langstock laufen: Anlässlich des Europäischen Protesttages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung können Sehende den Weg zum Forum aus Perspektive eines Sehblinden wahrnehmen. © LML

„Haltet uns den Weg frei!“ Unter diesem Motto macht die Bezirksgruppe Hanau des Blinden- und Sehbehindertenbundes Hessen (BSBH) auf Barrieren im öffentlichen Raum aufmerksam. Denn der 5. Mai erinnert als Europäischer Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung an die Hindernisse, die diese Personen alltäglich bewältigen müssen.

Hanau – Silvia Schäfer, Vorsitzende des BSBH Hanau, steht gemeinsam mit Lucas Schmelz, einem Projektmitarbeiter der AWO, auf dem Freiheitsplatz vor dem Forum. Vor ihnen auf dem Tisch liegen Verdunklungsbrillen, Langstöcke und Legobausteine. „Wir wollen aufklären, wie Menschen mit einem partiellen oder vollständigen Sehverlust Hanau wahrnehmen“, sagt Silvia Schäfer.

Ich mache den Selbstversuch: Dazu setzt mir Lucas Schmelz eine Simulationsbrille auf: „Jetzt haben Sie das Sichtfeld eines Menschen mit grauem Star.“ Sein Gesicht, das ich bis eben noch deutlich erkennen konnte, verschwimmt plötzlich vor meinen Augen.

Ich lasse den Blick über den Freiheitsplatz schweifen, sehe Schüler als matte Farbtupfer, die über den unscharfen grauen Asphalt laufen. Es ist, als würde ich durch Milchglas schauen. Für Menschen mit grauem Star sind bereits Treppen eine Barriere: „Viele Stufen heben sich farblich nicht vom Boden ab und werden zur Stolpergefahr“, sagt Silvia Schäfer.

Lucas Schmelz setzt mir noch eine zweite Simulationsbrille auf. Nun sehe ich wie ein Mensch, der an diabetischer Retinopathie erkrankt ist. „Hier greift der Blutzucker die Netzhaut an. Pro Jahr erblinden 2000 Personen daran“, sagt Silvia Schäfer. Ich blinzele durch die Brille. Gesichter kann ich kaum noch erkennen und auch die Farben sind noch mehr verblasst. „Laut Gesetz würden Sie mit diesem Blickfeld noch nicht als schwerbehindert gelten“, sagt Lucas Schmelz. Das bedeutet, dass ich benötigte Hilfsmittel zum Orientieren und Fortbewegen aus eigener Tasche bezahlen müsste.

Als Nächstes setzt mir Lucas Schmelz eine Verdunklungsbrille auf. Jetzt ist mir komplett schwarz vor Augen. Ich sehe wie ein Blinder - also nichts. Mit einem sogenannten Langstock in meiner Hand laufe ich langsam über den Freiheitsplatz. Ich lasse den Stock vor mir von links nach rechts gleiten. Zusätzlich leitet mich Lucas Schmelz mit seiner Stimme an, damit ich nicht in Menschen hineinstolpere oder mich an Bänken stoße. Es fühlt sich beklemmend an, wenn sich laute Stimmen nähern, ich jedoch nichts sehe. Auch als mich Lucas Schmelz am Arm packt, fühle ich mich unwohl. „Viele Menschen wollen helfen und überrollen Sehbeeinträchtigte dabei regelrecht“, sagt er.

Für mich fühlen sich die wenigen Meter, die ich mit der Verdunklungsbrille über den Freiheitsplatz laufe, wie ein Hindersparcour an. Größte Sicherheit bietet mir der Leitstreifen, der zum Bussteig A führt. Zwar sehe ich die weiße Markierung nicht mit meinen Augen. Jedoch ertaste ich mit dem Langstock die Rillen. „Sehende stellen manchmal unachtsam ihr Gepäck darauf ab und versperren sehbehinderten Menschen so den Weg zum Bus“, sagt Silvia Schäfer.

Andere Orientierungshilfen auf öffentlichen Straßen sind Bordkanten. Doch auch hier tun sich Barrieren: Parken dort Autos, erschweren das Blinden den Weg.

Wie man sich trotzdem im Straßenverkehr zurechtfindet und seine persönlichen Orientierungspunkte wie Gullydeckel findet, lernen Betroffene in der Mobilitätsschulung des BSBH. Manche nutzen dafür digitale Navigationssysteme. „Auf dem barrierefreien iPhone gibt es zum Beispiel die Ampel-App“, sagt Silvia Schäfer.

Doch diese kommt an ihre Grenzen: „Wenn zwei Ampeln dicht beieinanderstehen, kann die App sie nicht auseinanderhalten.“ Auch Zebrastreifen seien Hürden, da es Blinden oft schwerfalle, zu erkennen, ob die Autos tatsächlich anhalten. Wenn einige Meter entfernt ein Fahrzeug anfährt, seien sie schnell verunsichert.

Neben dem Umgang mit dem Langstock lernen Sehende bei Silvia Schäfer am Aktionsstand des BSBH auch die sogenannte Brailleschrift kennen. Was auf den ersten Blick wie bunte Legosteine aussieht, entpuppt sich beim genaueren Hinsehen als Alphabet für Blinde: Auf jedem Stein befinden sich zwischen einem und sechs Punkte, die wie auf einem Würfel angeordnet sind. Diese Punkte haben Rillen, die von den Blinden ertastet werden können. Das A hat einen Punkt, das H drei und das Q sogar fünf. Nur ein Buchstabe fehlt: Das W: „Der Franzose Louis Braille hat die Braille-Schrift erfunden und im Französischen gibt es kein W“, erklärt Silvia Schäfer.

Die Legosteine kommen gut bei den Besuchern an. Zuletzt leuchtet vor dem Forum in bunten Legoklötzchen für Sehende und Blinde lesbar: „Stadt Hanau“ (von Lisa Mariella Löw)

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