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Staatsanwaltschaft deckt haarsträubende Inkompetenz der Polizeiführung auf

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Von: Thorsten Becker, Yvonne Backhaus-Arnold

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Die Beschwerden der Hanauer Polizisten sind offenbar jahrelang in Offenbach und Wiesbaden verhallt. Das hat nun die Staatsanwaltschaft festgestellt.
Die Beschwerden der Hanauer Polizisten sind offenbar jahrelang in Offenbach und Wiesbaden verhallt. Das hat nun die Staatsanwaltschaft festgestellt. © Yvonne Backhaus-Arnold

Die Staatsanwaltschaft Hanau hat die Vorgänge der lokalen Polizei überprüft. Dabei stößt sie auf gravierende Missstände.

Hanau – Personell unterbesetzt, Technik völlig veraltet, Versagen bei der Organisation: Auf der Wache Hanau I am Freiheitsplatz herrschen bereits seit rund zwei Jahrzehnten derart chaotische Zustände, dass die Polizisten ihrer eigentlichen Aufgabe, die Bürger vor Straftaten zu schützen, offenbar nicht mehr in vollem Umfang gerecht werden können. Schlimmer noch: Die Beamten aus Hanau haben mehrfach die Missstände intern gemeldet und um Hilfe gerufen. Doch weder die Polizeipräsidenten in Offenbach, der Landespolizeipräsident noch das Hessische Innenministerium in Wiesbaden haben – außer größeren Arbeitsgruppen und Ausreden – etwas unternommen.

Staatsanwaltschaft in Hanau untersucht Organisationsversagen

Diese haarsträubenden Ergebnisse gehen aus dem kompletten Abschlussbericht zu den Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft Hanau hervor, mit denen die Vorgänge auf der Polizeiwache während der fremdenfeindlichen Morde vom 19. Februar 2020 unter die Lupe genommen worden sind.

In der vergangenen Woche hatten die Ermittler eine insgesamt 24 Seiten umfassenden Pressemitteilung veröffentlicht, in der es zunächst um den vom Attentäter Tobias Rathjen verübten Mord an Vili-Viorel Paun ging. Der 22-Jährige hatte den Attentäter bis zum Kurt-Schumacher-Platz verfolgt und war dort erschossen worden. Mindestens dreimal hatte er versucht, die Polizei über den Notruf 110 zu erreichen.

Terrornacht in Hanau: Drei Beamte abkommandiert

Pauns Vater hatte gegen die eingesetzten Beamten Strafanzeige wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung erstattet, als im Januar bekannt wurde, dass der Notruf auf der Wache am Freiheitsplatz offenbar nicht richtig funktioniert habe. Die Staatsanwaltschaft hat nun festgestellt, dass gegen die lediglich noch vier auf der Wache verbliebenen, vollständig ausgebildeten Beamten sowie zwei Praktikanten keinerlei Verdacht bestehe, und ein Ermittlungsverfahren abgelehnt. Es waren nur noch sechs Polizisten verfügbar, weil der Dienstgruppenleiter sowie zwei weitere Polizisten in dieser Nacht in das 32 Kilometer entfernte Zeppelinheim abkommandiert worden waren, da dort eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft werden sollte.

Die Anklagebehörde hat jedoch auch die Organisation der Wache I und deren Notrufsystem sehr genau unter der Lupe genommen, diese Ermittlungsergebnisse zu einem möglichen Organisationsverschulden jedoch aus Gründen der internen Dienstgeheimnisse der Polizei nicht veröffentlichen können und in der Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass dieser Abschnitt gekürzt worden ist.

Organisationsmängel in Hanau seit 2003 bekannt

Dieser Abschnitt, etwa sieben Seiten lang, liegt unserer Redaktion nun vor. Er zeigt erneut, dass die eingesetzten Beamten unter unzumutbaren Zuständen arbeiten mussten und sich seit mindestens 2003 über die Organisationsmängel mehrfach bei ihren Chefs im Polizeipräsidium Südosthessen in Offenbach beschwert hatten. Zahlreiche davon wurden an das Landespolizeipräsidium weitergeleitet. Und die sieben Seiten entlarven die haarsträubende Inkompetenz der politisch Verantwortlichen.

Besonders traurig: Die letzte Beschwerde aus der Wache I stammt vom 29. Januar 2019, rund ein Jahr vor dem grausamen Anschlag mit zehn Toten. Darin heißt es, dass die personelle Unterbesetzung dazu führe, dass „ein Beamter auf der Wache sitzt, während alle drei Streifen außerhalb der Wache unterwegs sind. Nicht selten klingen beide Notrufapparate gleichzeitig, es stehen Funkgespräche an und im Foyer stehen mehrere Besucher vor einer leeren Loge. Wenn dann noch im Gewahrsam ein Insasse klingelt, weil er beispielsweise auf die Toilette muss, ist das Chaos perfekt.“

Hanau: Wer ignorierte die Hilferufe der Polizei?

Geschehen ist nichts. Der Antrag auf Verstärkung wurde vom Polizeipräsidium Südosthessen, damals unter der Leitung von Roland Ullmann, abgelehnt. Ullmann ist inzwischen zum Landespolizeipräsidenten befördert worden. Bereits in den Jahren zuvor sind die Hilferufe aus Hanau entweder in Offenbach oder in Wiesbaden verhallt. Selbst dann noch, als festgestellt worden ist, dass die Wache am Hanauer Freiheitsplatz im Jahre 2010 jährlich fast genauso viele Notrufe bearbeitet habe wie die deutlich stärker besetzte Zentrale des Polizeipräsidiums in Offenbach, das mit vier Notrufplätzen ausgestattet ist.

Detailliert hat die Hanauer Staatsanwaltschaft sogar die mehrfachen Beschwerden aus Hanau chronologisch aufgelistet und die angeblichen Gründe, warum angeblich nichts getan worden sei. Der Kern des Problems scheint demnach die landespolitisch gewollte Verschmelzung der ehemaligen Polizeidirektion Hanau mit dem Präsidium Offenbach zum Kunstnamen „Polizeipräsidium Südosthessen“ zu sein.

Staatsanwalt: Polizeistation Hanau könnte Voraussetzungen nicht genügt haben

Denn seitdem ist die Polizeiwache Hanau für alle Notrufe aus dem Altkreis – rund 200.000 Bürger – zuständig. Die Technik ist jedoch veraltet, denn selbst eine Weiterleitung der Notrufe an andere Zentralen im Falle der Überbelastung – wie am 19. Februar 2020 geschehen – fehlte. Seitdem hat es über ein Jahr gebraucht, diese Sicherheitslücke für die Bürger zu schließen. Innenminister Peter Beuth (CDU) hatte diesen Fehler bereits öffentlich eingeräumt.

Die nun bekannt gewordenen Feststellungen des ermittelnden Staatsanwalts sind daher eine erneute schallende Ohrfeige für die politische Führung der hessischen Polizei, denn er verweist darauf, dass die Polizei „ein Beschützergarant für die öffentliche Sicherheit“ ist, und kommt zu dem Schluss, dass die Ermittlungen „erste mögliche Anhaltspunkte dafür geben, dass der Notruf der Polizeistation Hanau diesen Voraussetzungen nicht genügt haben könnte“.

Hanau: OB Kaminsky fordert Innenminister Beuth zum Rücktritt auf

Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky hält unterdessen an der Rücktrittsforderung an Hessens Innenminister Beuth fest. „Beinahe jeden Tag kommt ein Grund dazu“, erklärte Kaminsky nach den aktuellen Entwicklungen auf Nachfrage unserer Zeitung. Beuth stehe, so der OB, mittlerweile für eine „Kultur des Verschleierns und Verschweigens“. (Thorsten Becker und Yvonne Backhaus-Arnold)

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