Erst nach acht Metern auf der Bremse

„Ich hätte nicht gedacht, dass bei einer Vollbremsung eine so große Kraft entsteht.“ Kai ist gerade aus dem Opel Corsa geklettert, der in der Stettiner Straße auf Tempo 30 beschleunigt hat, um dann abrupt anzuhalten. Luisa wundert sich, dass der Wagen nicht sofort hält, sondern mehrere Meter über den Asphalt rutscht. Das sollen sich die Schüler der 5e am Adolf-Reichwein-Gymnasium (ARG) gut merken, wenn sie als Fußgänger eine Straße überqueren, denn das ist das Lernziel der ADAC-Aktion „Achtung Auto!“
.
Heusenstamm – Herbert Aufreiter arbeitet für den Allgemeinen Deutschen Automobilclub (ADAC) und weist mit dem Unterricht unter freiem Himmel auf Gefahren im Straßenverkehr hin. Eben mal schnell die Fahrbahn überqueren – das kann heikel werden, weil viele Leute nicht einschätzen, wie lange ein Wagen braucht, bis er steht. Und was bei einer Vollbremsung im Inneren eines Pkw geschieht.
Louisa findet den Bremsvorgang „nicht so schön“
„Man hat schon Herzklopfen, wenn das Auto losfährt“, beschreibt Raoul sein Erlebnis auf der Rückbank. „Wenn er dann bremst, fliegt man ein bisschen nach vorne“, erinnert sich Kai. „Dann wird man richtig in den Sitz gedrückt“, fährt Raoul fort. „Der Gurt hält einen auf der Bank“, erläutert der Fünftklässler weiter. Louisa findet den Bremsvorgang „nicht so schön“, sie wundert sich, dass der Opel „nicht sofort stoppt“.
Genau das will Aufreiter den Insassen vermitteln, es braucht eine beachtliche Strecke, bis das Gefährt steht. Dazu beginnt er mit einer Übung: Die Kinder sollen rennen und an einer weißen Linie abrupt stoppen. Schon kurz dahinter kommen sie zum Stehen, ein Mitschüler markiert die Stellen mit roter Kreide. Dann aber sollen die Mädchen und Jungen loslaufen, ohne zu wissen, wann sie anhalten sollen. Das signalisiert nun einer von ihnen, indem er die schwarz-weiß karierte Formel-1-Fahne senkt. Ergebnis: Die Läufer legen eine deutlich längere Strecke zurück, bis sie stehen.
So ist das bei Autofahrern auch. Und deren schwere Kisten rollen weiter, bis der Befehl zum Drücken des Bremspedals im Fuß angekommen ist. Der Mensch am Lenker muss halt erst mal erkennen, was los ist, dann erst kann er reagieren. Der Bremsweg selbst kommt noch dazu, gibt der Pädagoge zu bedenken. Die Zehn- und Elfjährigen legen Pappkartons mit den Begriffen und Rechenzeichen in die richtige Reihenfolge auf den Asphalt: „Reaktionsweg + Bremsweg = Anhalteweg“.
„Aufprall mit 25 Stundenkilometern gleicht einem Sturz aus dem ersten Stock eines Hauses
Das bedeutet in der Praxis, „wenn der Fahrer bei Tempo 30 plötzlich eine Person vor sich erkennt, bewegt sich sein Wagen noch 8,33 Meter weiter, bis er aufs Bremspedal tritt. Und selbst während einer Vollbremsung bewegt sich der Pkw nochmal 4,34 Meter weiter, rein rechnerisch gesehen.“ Macht 12,70 Meter, findet die Gruppe heraus. Ein 50 km/h schnelles Auto steht nach knapp 19 Metern, eines mit 70 erst nach 43 Metern. Und wenn der Wagen nicht rechtzeitig vor einem Hindernis zum Stehen kommt? – „Ein Aufprall mit 25 Stundenkilometern gleicht einem Sturz aus dem ersten Stock eines Hauses, einer mit 50 wirkt wie ein Fall aus der vierten Etage“, vergleicht der Experte.
Erst seit einigen Tagen darf Herbert Aufreiter wieder Schüler im Fahrzeug mitnehmen, weist er auf die Corona-Regeln hin. Die Reifen sind nach dem kurzen Anfahren und starken Bremsen noch ziemlich warm. Das beeinträchtige die Sicherheit jedoch nicht, versichert der ADAC-Mitarbeiter, „der Corsa wird häufiger inspiziert als jedes andere Auto“. Mit den Anwohnern der Stettiner Straße gibt es an den beiden Aktionstagen für alle fünften ARG-Klassen keine Probleme, die meisten Nachbarn kennen das Unterrichtsprojekt schon aus vergangenen Jahren und biegen sehr vorsichtig und rücksichtsvoll in die Straße ein. In der Nacht hat allerdings jemand das Sperrschild an der Ecke geklaut, bemerkt Aufreiter. (Michael Prochnow)