Heusenstammerin nimmt ihre Familie aus der Ukraine bei sich auf

Vladimir zählt ganz stolz die Regierungschefs mehrerer Länder auf. Olaf Scholz kennt der Zehnjährige, Wolodymyr Selenskyj natürlich, aber auch Joe Biden und Boris Johnson. Obwohl er kein Deutsch spricht, die Namen, die er nennt, versteht man.
Heusenstamm – Einen Regierungschef aber nennt der Junge nicht in seiner Aufzählung, in der er kaum zu stoppen ist: Wladimir Putin. Vladimir ist seit wenigen Tagen in Heusenstamm, Zusammen mit seiner Mutter ist er aus Czernowitz in der Ukraine geflüchtet.
Es ist die Stadt von Rose Ausländer und Paul Celan, aus der die beiden stammen. Die beiden großen Lyriker des vergangenen Jahrhunderts wurden in Czernowitz geboren. Die Stadt im Südwesten der Ukraine – genau in der Bukowina – hat eine wechselvolle Geschichte, gehörte etwa mal zu Österreich-Ungarn, zu Rumänien und zur Sowjetunion. Aber eben auch zur Ukraine, in deren Gebiet sie seit der Zeit Altrusslands (Kiewer Rus) liegt. Diese Stadt haben Valeria und Vladimir verlassen.
Myroslava stammt auch aus der Ukraine. Seit rund 20 Jahren lebt sie in Heusenstamm, hat während eines Aufenthalts als Au-Pair-Mädchen ihren heutigen Mann kennengelernt. Inzwischen haben die beiden einen jetzt 14 Jahre alten Sohn.
Am 24. Februar – also dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine – erhielt Myroslava einen Anruf ihres Cousins aus Czernowitz. Er kündigte an, dass er seine Frau und seinen Sohn sowie die Frau eines weiteren Cousins mit deren Töchtern und die 74 Jahre alte Großmutter der Kinder auf die Reise nach Heusenstamm schicken werde. „Hilf ihnen, es geht los“, waren seine Worte.
Mit dem Auto ist die kleine Gruppe zunächst an die nur etwa 40 Kilometer entfernt liegende Grenze nach Rumänien gefahren. Es folgte ein mehrstündiger Fußmarsch, um über die Grenze zu gelangen.
In Heusenstamm überlegte Myroslava derweil fieberhaft, wie ihre Familie aus Rumänien nach Deutschland gelangen könnte. Da fiel ihr ein, dass ihr Arbeitgeber mit einer Firma in Rumänien zusammenarbeitet. Ohne dort jemanden zu kennen, schickte sie eine Mail an diese Firma. Und erhielt bald Antwort. Ein Mitarbeiter dort gehört der gut vernetzten Baptisten-Kirche an. Er organisierte einen Kontakt. Und so holte ein völlig Fremder die kleine Gruppe ab und nahm sie zunächst bei sich auf.
Die Weiterreise mit dem Flugzeug war undenkbar: „Die Tickets kosteten plötzlich 5000 Euro pro Person“, berichtet Myroslava. Also galt es, eine passende Busreise zu finden. Nach fünf Tagen konnten sie in einen Reisebus nach Belgien steigen. Der Fahrer war bereit, eine Pause an der Raststätte Weiskirchen einzulegen. Und so konnten Myroslava und ihr Mann Michael die Familie eine knappe Woche nach deren Flucht aus Czernowitz in die Arme schließen.
Zu zehnt wohnten sie dann zunächst in der 80 Quadratmeter großen Wohnung von Myroslavas Familie. Der Sohn konnte dann aber für ein paar Tage ausquartiert werden und auch Michael fand einen anderen Unterschlupf. Die Oma saß nach wenigen Tagen in einem Flugzeug in die USA. Dort lebt ein weiterer Sohn von ihr, der sie aufnimmt.
Die 42 Jahre alte Valeria ist Journalistin, arbeitet in Czernowitz für eine Online-Zeitung in den Ressorts Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie kann derzeit auch von Deutschland aus für ihre Redaktion arbeiten. Vor wenigen Tagen hat sie die Gelegenheit genutzt zu einem Interview mit Bürgermeister Steffen Ball. Das bringt ein wenig Alltag in dieses so andere Leben seit der Flucht. Aber natürlich liest sie, was ihre Kollegen aus jenen Städten berichten, die vom russischen Militär massiv angegriffen werden. Und sie weiß von einem Kollegen einer anderen Zeitung, der erschossen wurde.
Da die Situation in Myroslavas Wohnung kein Dauerzustand bleiben konnte, wurde nach einer Bleibe für die Gruppe gesucht. Über mehrere Ecken erfuhr zufällig ein Offenbacher Hausbesitzer von der Familie aus Czernowitz. Er bot sofort eine derzeit leer stehende Wohnung an. Und setzte noch eins drauf: Als die Frauen zum ersten Mal dorthin kamen, waren Kühlschrank und Schränke mit Lebensmitteln und Artikeln des täglichen Bedarfs gefüllt. „Wir sind überwältigt von dieser riesigen Hilfsbereitschaft, die uns überall begegnet ist“, sagt Myroslava.
Auch Valeria ist dafür sehr dankbar. Aber die Sorgen lassen sie nicht los. Ihr Sohn Vladimir ist nicht gesund, braucht regelmäßige Versorgung, die sie noch organisieren muss. Zudem zählt er zu den Kindern mit Förderungsbedarf. Selbst wenn er Deutsch könnte, eine Regelschule wird er wohl nicht besuchen können.
Dennoch funktioniert sie derzeit, weiß, dass sie eigentlich ruhig schlafen könnte, weil keine Gefahr besteht, dass Bomben fallen. Aber zur Ruhe kommt sie nicht. Jede Nacht wacht sie auf und durchforstet das Internet nach den neuesten Meldungen aus ihrer Heimat, erzählt sie. Und dann laufen die Tränen: Ihr ganzes Leben hat sie in Czernowitz zurückgelassen, ihren Mann, ihre 80 Jahre alte Mutter, die nicht mehr reisen kann. Die Ungewissheit quält. Sie weiß nicht, ob sie ihren Mann und ihre Mutter jemals wiedersehen wird.
Noch einmal meldet sich Vladimir zu Wort. Er will sein Geschichtswissen über Kriege kundtun. Einige zählt der Zehnjährige auf, auch den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Am Ende gesteht er, dass er Angst hat, Angst vor einem dritten weltweiten Krieg. (Claudia Bechthold)