Mina Paul blickt zurück auf ein hundertjähriges Leben in Heusenstamm

Die Heusenstammerin Mina Paul feiert ihren 100. Geburtstag. Ihr Alter hält die ehemalige Turnerin jedoch nicht davon ab, ihrer Leidenschaft weiter nachzugehen.
Heusenstamm – Mit den Fingerspitzen bei durchgedrückten Knien und gestrecktem Oberkörper die Fußspitzen berühren, das kann Mina Paul und beweist es auch gern, wenn man sie darauf anspricht. Auch andere Gymnastikübungen beherrscht sie noch immer. Dies wäre kaum der Rede wert, wäre die Heusenstammerin eine junge Frau. Doch Mina Paul ist in dieser Woche hundert Jahre alt geworden.
Eigentlich heißt sie Wilhelmine und ist eine geborene Helm. Doch unter diesem Namen kennt sie kaum jemand in der Schlossstadt. Sie ist „die Mina“. Als sie am 18. Januar 1923 auf die Welt kommt, hat Heusenstamm etwa 3000 Einwohner. Ihre Eltern wohnen in einem Haus an der Ecke der Frankfurter Straße zur Patershäuser Straße. „Direkt gegenüber der Schule“, betont sie im Gespräch. Als Kind habe sie sich gefreut, so nah an der Schule zu wohnen. Doch als sie sechs Jahre alt ist, zieht die Familie in ein neu gebautes Haus an der Ecke Patershäuser und Friedrich-Ebert-Straße, das damals am Stadtrand stand. „Dann hatte ich doch einen weiteren Schulweg“, erinnert sie sich.
Hinter dem neuen Haus war nur Ackerland, erzählt Mina Paul. Und jeden Tag sei ein Pferdefuhrwerk mit Milchkannen auf dem Weg vom Patershäuser Hof nach Offenbach vorbeigefahren: „Das hat gescheppert.“ Viel gespielt habe man abends im Hause Helm, „Halma“ zum Beispiel oder „Mensch ärgere dich nicht“. Außerdem wurde regelmäßig Musik gemacht und gesungen.
Der Vater Jakob Helm, Förster in Heusenstamm, hatte im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren und brauchte viel Hilfe. Die Mutter war früh pflegebedürftig. „Es war nicht einfach“, sagt Mina Paul. Schon 1937 muss sie die Schule verlassen, um den Haushalt zu übernehmen. 1938 stirbt die Mutter, 1943 folgt der Vater. Und ihr älterer Bruder wird 1944 als vermisst gemeldet, kehrt nicht mehr aus dem Zweiten Weltkrieg zurück. So ist sie – noch nicht volljährig – plötzlich allein mit einem noch nicht abbezahlten Haus.
Dank der Unterstützung eines Freundes der Familie erhält sie 1943 eine Stelle in der Stadtverwaltung. „Wenn Bombenalarm war, mussten wir immer alle Akten und Urkunden in den Keller tragen“, erzählt Mina Paul über diese Zeit. Zunächst arbeitet sie in der Verwaltung, nach dem Krieg ist sie für die Vertriebenen zuständig.
1947 kehrt Karl Paul aus der amerikanischen Gefangenschaft zurück. Vor dem Krieg hatte dieser Jakob Helm immer „Worschtsupp“ gebracht, wenn in dessen elterlicher Landwirtschaft geschlachtet worden war. Heimlich hatten Mina Helm und Karl Paul sich geschrieben, nachdem er eingezogen worden war. Der erste Weg nach der Heimkehr führt ihn zu Mina, erst danach zu seinen Eltern. 1948 wird geheiratet.

Fünf Kinder hat Mina Paul zur Welt gebracht. Das erste stirbt bei der Geburt. Dann folgen Friedel, Theo, Lydia und Wolfgang. Ihr Mann Karl macht sich mit einem Fuhrbetrieb selbstständig, transportiert Sand und Kies, später kommt ein Bagger für Erdarbeiten dazu. „Ich musste die Rechnungen schreiben“, berichtet die Jubilarin. Ihre erste Urlaubsreise macht sie zur Silberhochzeit nach Bonn.
Eine große Leidenschaft pflegt sie seit ihrer Kindheit bis heute: das Turnen. Als Achtjährige hat Mina Paul damit angefangen. Auch jetzt besucht sie ab und zu die Gymnastikstunden in ihrem Verein, der Turn- und Sportvereinigung Heusenstamm. 150 Jahre alt wird die TSV in diesem Jahr, mehr 85 Jahre lang gehört Mina Paul dem Verein an – sie durfte erst mit 14 Jahren Mitglied werden.
Sechs Enkel und drei Urenkel zählen mittlerweile zur Familie, deren Mittelpunkt sie ist. Ihr Mann Karl ist im Juni 2011 verstorben.
Mina Paul ist dankbar für ihr langes Leben: „Als Kind musste ich viel leisten, jetzt dankt mir der liebe Gott, indem ich beweglich geblieben bin.“ Freilich habe sich viel verändert in ihrem Leben. Vor allem, dass es heutzutage viele Hilfsmittel gebe, die anstrengende körperliche Arbeiten ersetzen, schätzt sie. Und der Kopf funktioniert auch noch ganz gut: Aufs Stichwort zählt sie zum Beispiel ohne Pause alle 51 Namen ihres Schuljahrgangs auf. Geschätzt wird sie von den Heusenstammern, weil sie mit viel Humor nie mit ihrer Meinung hinter dem Berg hält. (Von Claudia Bechthold)