Grenzen setzen, ohne zu verletzen

Der kleine Vladimir mag nicht mehr: drei Mal in der Woche geht er zu seiner Oma. Jedes Mal knutscht sie ihn ab und nennt ihn „Purzelbäumchen“. Der zehn Jahre alte Junge liebt seine Oma, sie ist lustig, erzählt schöne Geschichten und kocht ihm leckeres Essen – aber er möchte nicht geküsst werden. Wie soll er Grenzen setzen, ohne seine Oma damit zu verletzen?
Langen - Diese Frage stellt das Ensemble des Schultheater-Studios Frankfurt am Dienstagmorgen den Schülern der fünften und sechsten Klassen der Adolf-Reichwein-Schule in Langen.
Das interaktive Theaterstück gegen sexuellen Missbrauch „Trau dich! Ein starkes Stück über Gefühle, Grenzen und Vertrauen“ gastiert für vier Vorstellungen vor insgesamt 1 600 Schülern aus dem gesamten Kreis Offenbach in der Stadthalle. Das Theaterangebot für acht-bis zwölfjährige Mädchen und Jungen ist das zentrale Element der gleichnamigen bundesweiten Initiative zur Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs. Die Schirmherrschaft für die hessische Kampagne übernehmen seit 2014 der Hessische Kultusminister und der Hessische Minister für Soziales und Integration.
Die Schauspieler erzählen in rund 75 Minuten vier unterschiedliche Geschichten. Da ist Paula, die sich einfach noch nicht bereit dafür fühlt zu küssen, obwohl ihre beste Freundin den ersten Kuss schon hinter sich hat. Ein weit schlimmeres Erlebnis hat Alina, die sich, gerade einmal acht Jahre alt, den sexuellen Annäherungen des Verlobten ihrer großen Schwester erwehren muss. „Für uns geht es in dem Stück nicht darum, mit viel Action diese Szenen aufzulösen. Sondern vielmehr darum, den Kindern das Selbstvertrauen mitzugeben, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen und auch zu artikulieren. Will ich von meiner Oma geküsst werden? Und wenn ich es nicht will, dann kann ich es sagen“, erläutert Nina Natzke, Theaterpädagogin des Frankfurter Ensembles. Die Langener Kinder haben für Vladimir einen wichtigen Tipp: Der Junge sollte seine Mutter mit ins Boot holen. Letztlich schreiben die Schauspieler gemeinsam mit den jungen Zuschauern der übergriffigen Oma einen Brief.
Das Theater-Angebot richtet sich an alle Schulen des Kreises. Die Buchung läuft über das Staatliche Schulamt in Offenbach. „Die Schulen können sich bei uns dafür bewerben. Die Nachfrage ist gut“, erklärt Dr. Andrea Mertens, Psychologiedirektorin im Schulamt. Es mache Sinn, theaterpädagogisch an dem Thema zu arbeiten: Es gebe im Schulalltag von Kindern immer wieder Grenzüberschreitungen. „Zum Glück sehr, sehr wenige Fälle des Missbrauchs. Grenzverletzungen gibt es zwischen Schülern und Lehrern, zwischen Schülern und Schülern. Es sind Blicke, es sind Worte und es sind Taten. Da ist Prävention bei Schülern und Lehrern ein wichtiger Fokus von uns“, so Mertens.
„Trau Dich“ wird von einem ganzen Netzwerk gut vorbereitet. „Wir Lehrer haben von Fachkräften des Kinderschutzbundes eine Schulung bekommen und auch die Eltern konnten an einem Online-Elternabend zu dem Theaterangebot teilnehmen“, erklärt Nina Schilling, Unterstufenleiterin an der Reichwein-Schule. Denn es ist auch für Lehrer wichtig zu wissen, wie sie damit umgehen, wenn sie den Verdacht haben, dass ein Missbrauch vorliegt – und wie sie angemessen und gut reagieren, wenn sich ein Schüler wegen Grenzüberschreitungen oder Missbrauch an den Lehrer wendet.
„Sehr wichtig ist es, das Kind ernst zu nehmen und es darin zu bestätigen, dass es das Richtige war, sich an den Lehrer zu wenden“, erklärt Monika Behrens vom Kinderschutzbund Westkreis Offenbach. Gleichzeitig sollten Pädagogen nie ein Versprechen abgeben, dieses „Geheimnis“ für sich zu bewahren. Es brauche viel Feingefühl, um das betroffene Kind bei allen weiteren Schritten mit einzubeziehen.
Die Polizei ist mit dem Netzwerk gegen Gewalt bei dem Theaterprojekt auch mit im Boot. Polizeibeamter Reinhard Zellmann, Geschäftsführer des Netzwerks, kennt die genauen Zahlen der Polizeistatistik rund um das traurige Thema Missbrauch: 107 Fälle gab es im Jahr 2021 in Stadt und Kreis Offenbach sowie im Main-Kinzig-Kreis. „Das Dunkelfeld ist aber um ein Vielfaches höher“, weiß der erfahrene Polizist. Die meisten Fälle passierten im unmittelbaren sozialen Umfeld der Kinder – und würden oft nicht zur Anzeige gebracht. Umso wichtiger findet Zellmann „Trau Dich!“, denn mit dem Stück würden Lehrer wie Schüler dafür sensibilisiert, ihr Empfinden auszudrücken und sich Hilfe zu suchen.
Von Nicole Jost