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Langener Tafel: „Aufnahmestopp ist kein Thema“

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Von: Julia Radgen

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Es gibt noch genug für alle: Tafel-Vorsitzender Günter Böhnel, Vorstandsmitglied Katja Bernhard und die beiden Ehrenamtlichen Bernd Hofmann und Katharina Heidenreich (von links) im Ausgaberaum der Langener Tafel.
Es gibt noch genug für alle: Tafel-Vorsitzender Günter Böhnel, Vorstandsmitglied Katja Bernhard und die beiden Ehrenamtlichen Bernd Hofmann und Katharina Heidenreich (von links) im Ausgaberaum der Langener Tafel. © Tafel

Inflation, Lebensmittelknappheit, Flüchtlinge: Die Langener Tafel hat noch genug Essen, aber die Situation ist angespannt.

Langen – Alles wird gerade teurer, doch vor allem bei Lebensmitteln ist die Inflation extrem zu spüren. Hier sind die Preise in den vergangenen Monaten noch einmal deutlich gestiegen. Für immer mehr Menschen wird das Geld am Ende des Monats knapp, sie können den Kühlschrank und die Speisekammer nicht mehr füllen – und wenden sich hilfesuchend an die Tafeln.

Deren Dachverband hat erst kürzlich an die Politik appelliert, dass die ehrenamtlichen Einrichtungen nicht Teil des sozialstaatlichen Systems sind – und nicht alle betroffenen Menschen versorgen können. Vielerorts nehmen die Tafeln keine neuen Kunden mehr auf und müssen teilweise ihr Angebot beschränken – weil auch das Aufkommen an Lebensmittelspenden nicht mehr so groß ist wie früher.

Die Langener Tafel hat da vergleichsweise Erfreuliches zu berichten: „Wir haben keinen Aufnahmestopp und haben einen solchen Schritt aktuell auch nicht geplant. Wir sind noch ausreichend mit Lebensmitteln versorgt“, sagt der Tafel-Vorsitzende Günter Böhnel. Die Märkte, mit denen der Tafel-Verein bereits seit vielen Jahren zusammenarbeitet, geben glücklicherweise noch genug Lebensmittel ab. „Wir kaufen auch nichts hinzu“, betont Böhnel – außer die Tafel erhalte genau auf diesen Zweck ausgerichtete Geldspenden.

„Außerdem sind wir in der glücklichen Lage, dass wir vor dem Ukraine-Krieg unser Lager zugemietet haben“, sagt der Tafel-Chef. Direkt angrenzend an ihr Gebäude in der Carl-Schurz-Straße haben die Lebensmittelretter seit dem vergangenen Frühjahr jede Menge Platz, um haltbare Lebensmittel und Sonderspenden aufzubewahren. „Das war ein echter Glücksgriff“, meint Böhnel.

Auch im Ausgaberaum stapeln sich an diesem Vormittag die Waren wie gewohnt in den Kisten: Kartoffeln neben Karotten, dahinter Paprika und massig Blumenkohl, auf der anderen Seite des Raumes liegen die Backwaren, hinten in der Kühltheke stehen die Milchprodukte. „Wir haben keinen Mangel in eine bestimmte Richtung“, sagt Böhnel. Die über 55 Menschen, die geduldig vor der Tür der Tafelräume warten, bekommen weiter die gewohnte Mischung aus frischen und haltbaren Lebensmitteln. Manchmal ist auch ein „Goodie“ wie Filterkaffee dabei. Natürlich stehe die Tafelidee – Lebensmittel retten, Menschen helfen – im Vordergrund. „Wir sind kein Vollsortimenter“, so Böhnel.

Aber auch in Langen ist die Kundenzahl stark gestiegen. „Wir verzeichnen seit Jahresbeginn mit gut 40 Prozent eine überproportionale Zunahme an Tafelkunden. Das ist enorm für diesen Zeitraum und entspricht den allgemeinen Erfahrungen der Tafeln hessenweit“, erläutert Vorstandsmitglied Katja Bernhard. Es melden sich sowohl Menschen neu an – aber leider bemerken die Ehrenamtlichen auch, dass Bestandskunden durch die aktuelle Lage wieder auf die Tafel angewiesen sind. Die Menschen kommen aus Langen, Dreieich, Egelsbach und Erzhausen. Aktuell versorgt die Langener Tafel auch rund 200 Geflüchtete aus der Ukraine. „Die Tendenz ist steigend“, sagt Bernhard. Auch die Ausländerbeiräte in den Kommunen weisen aufs Angebot hin.

An der Ausgabe hört man nun immer öfter Englisch. „Four euros, please“, sagt die Mitarbeiterin an der Anmeldung gerade zu einer Kundin. Für alle, deren Englisch nicht so gut ist, bemüht sich die Tafel immer um Dolmetscher. Eine Mitarbeiterin spreche Russisch und übersetze für das Team. Es dürfe aber auch nicht vergessen werden, dass seit Januar wieder mehr Menschen aus Afghanistan zur Tafel kommen.

„Das sind schon sehr emotionale Momente“, sagt Bernhard über den Kontakt mit den Menschen, die vor dem russischen Angriffskrieg geflohen sind. Viele junge Mütter kommen zur Tafel, aber ihr ist auch ein 82-Jähriger im Gedächtnis geblieben. „Er hat zuerst aufgrund der Sprachbarriere nicht richtig verstanden, wie das hier abläuft. Dann kam er aber nach der Lebensmittelausgabe zu uns, hat sich auf Ukrainisch bedankt und uns Blumen, die es hier zum Mitnehmen gab, geschenkt“, erzählt sie gerührt.

„Dass das alles funktioniert, ist nur mit dem Krafteinsatz unserer Ehrenamtlichen zu stemmen, die an vier Ausgabetagen Lebensmittel verteilen, Waren abholen oder sortieren“, sagt Böhnel. Rund 70 Mitarbeiter sind im Einsatz – damit ist die Tafel gut versorgt. Gerade tragen Helferinnen und Helfer Kisten mit Kräutern und Schnittblumen in den Anmelderaum. Die Anmelde- und Wartesituation ist immer noch zum Schutz vor Corona entzerrt. Die Menschen betreten nur in kleinen Gruppen den Ausgaberaum, natürlich mit Maske. Hin und wieder müssen die Mitarbeiter jemanden erinnern, diese zu tragen. Eine Kundin holt sich an der Anmeldung eine Handvoll OP-Masken. Aber im Großen und Ganzen läuft alles trotz Pandemie aus Sicht des Vorstands gut. „Die allerwenigsten diskutieren über die Maske“, sagt Bernhard.

Den Anmelderaum, der momentan de facto ein Vielzweckraum ist, will der Verein aber umgestalten. Dafür hat er eine zweckgebundene Spende erhalten. Ziel ist auch, mehr Diskretion zu schaffen. Denn das Tafel-Team weiß, dass noch viel mehr Menschen auf Hilfe angewiesen sind. „Wie viele trauen sich wohl nicht hierherzukommen und sich zu ,outen‘, indem sie draußen warten?“, meint Bernhard. Der Umbau des Raums ist das nächste große Projekt. (Julia Radgen)

Kritik des Dachverbands: Staat wälzt Verantwortung auf die Tafeln ab 

Aktuell sind alle Tafeln in Hessen laut dem Landesverband in Wetzlar an ihren Leistungsgrenzen angekommen oder schon darüber hinaus. „Es fehlt an fast allem – und wir können den Menschen, die unsere Unterstützung dringend benötigen, nicht mehr in dem Umfang helfen, wie wir uns das vorstellen“, fasst der Landesverband die Kommentare vieler Teilnehmer der jüngsten Tagung zusammen. Die Anzahl der Tafelkunden steigt täglich – auch weil das Leben teurer wird. Mittlerweile sind im Land etwa 14 Prozent aller Tafelkunden Geflüchtete.

Für die vielen geflüchteten Menschen aus der Ukraine sei die Situation unerträglich: Sie müssen wochenlang auf die Registrierung bei den Ämtern warten und sind in dieser Zeit ohne Einkünfte. In dem von den Behörden ausgegebenen Informationsmaterial werden die Tafeln oft als „Versorger“ benannt. „Der Staat schiebt die Verantwortung auf die Tafeln ab. Das ist ein nicht tragbarer Zustand. Wo der Staat versagt, können die Tafeln nicht in die Pflicht genommen werden“, beklagen der Tafel-Bundesvorsitzende Jochen Brühl und der Landesvorsitzende Willi Schmid.

Zugleich nehme die Menge der geretteten Lebensmittel ab beziehungsweise stagniere bei vielen Tafeln hessenweit. „Wir wissen nicht, wie lange wir das noch durchhalten, zumal uns auch noch die Betriebskosten durch die Decke schießen“, erläutert Schmid. (jrd)

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