Podiumsdiskussion in Langen: Angehörige der Opfer von Hanau haben noch viele offene Fragen

Der Langener Ausländerbeirat hat Angehörige der Opfer des Attentats von Hanau zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Die Familien hatten auch zwei Jahre nach der Tat kaum Zeit zum Trauern.
Langen – Es sind Eindrücke, die einem das Herz zerreißen. Emis Gürbüz sitzt auf dem Podium im kleinen Saal der Stadthalle, ein Bild ihres Sohnes Sedat klemmt an ihrem Halstuch. Um sie herum sitzen Cetin Gültekin und Armin Kurtovic. Sie alle sind Angehörige von Opfern, die bei dem rechtsextremen und rassistischen Attentat von Hanau vor zwei Jahren ermordet wurden.
Gegen 21.50 Uhr schoss der Täter, Tobias R., am 19. Februar 2020 in einer Shisha-Bar auf dem Heumarkt um sich und tötete gezielt ausländisch aussehende, junge Mitbürger. Anschließend fuhr er in den Stadtteil Kesselstadt und tötete in einem Kiosk weitere Menschen, ehe er in sein Haus zurückfuhr und seine Mutter und sich erschoss. Binnen weniger Minuten kamen so neun Unschuldige ums Leben. Hanaus Oberbürgermeister, Claus Kaminsky, beschrieb die Tat am folgenden Tag als „bitterste und traurigste Stunde, die die Stadt in Friedenszeiten erlebt hat.“
Am Vorabend des zweiten Jahrestages können die Hinterbliebenen ihre Trauer immer noch kaum in Worte fassen. Dennoch stellen sie sich den Fragen von Mehmet Canbolat, dem Vorsitzenden des Langener Ausländerbeirates, und schildern ihre Gedanken. „Ich kam noch nicht zum Trauern, weil ich seit diesem Tag für Aufklärung kämpfe. Wir haben ein Recht darauf, zu erfahren, was genau passiert ist“, sagt Cetin Gültekin. Er hat an dem Abend seinen Bruder Gökhan verloren. Bei gefühlten minus 13 Grad sei er damals in der Nacht zum Tatort gefahren und habe gehofft, dass Gökhan nur verletzt sei. Emis Gürbüz weiß gar nicht mehr, wie sie zum Heumarkt kam: „Wir sind so schnell wie möglich hin, weil wir hörten, dass sich das alles in Sedats Laden abgespielt haben soll.“ Es vergingen schwere Stunden, bis am nächsten Morgen, gegen 6.30 Uhr, die bittere Nachricht an alle Familienangehörigen überbracht wurde. „Meine Frau und meine Tochter sind dann umgefallen“, erzählt Armin Kurtovic. „Wir haben uns einfach gefragt, warum? Warum unser Sohn Hamza?“
Emis Gürbüz hält eine Hülle mit den letzten Dokumenten ihres Sohnes hoch – Personalausweis, Bankkarten und die Sterbeurkunde. „Das hat mir die Polizei am nächsten Tag vorbeigebracht. Am liebsten würde ich das alles verbrennen, ich kann es aber nicht, denn der Name von Sedat steht darauf“, schildert sie und kämpft mit den Tränen. „Ich weiß nicht, wie ein Mensch so viel Hass in sich haben kann“, ergänzt Kurtovic.
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Die Aufzeichnung des Gesprächs aus der Langener Stadthalle kann man sich auf Youtube anschauen.
Das Familienleben hat sich für alle Hinterbliebenen auf einmal auf den Kopf gestellt. „Früher waren wir eine Familie, doch heute sitzen alle nur noch in getrennten Zimmern und reden fast nicht mehr miteinander. Das ist keine Familie mehr“, bedauert Gürbüz und stellt fest: „Für uns war das eine schwarze Nacht. Doch für Deutschland ist das ein schwarzer Fleck, der nie vergessen wird.“
Ein großer Kritikpunkt ist für alle Angehörigen der Umgang der Polizei mit der Aufklärung des Attentats. War der Notausgang in der Shisha-Bar verschlossen? Warum kam niemand am Notruf der Polizei durch? Findet die Aufklärung vollumfänglich statt? All diese Fragen beschäftigen die drei Familien stark. „Die Akte ist voller Widersprüche“, meint Kurtovic. Gültekin berichtet von einer Übung, die die hessische Polizei im Jahr 2016 durchgeführt habe, bei der bereits Schwachstellen im System identifiziert worden seien: „Damals wurde eine Katastrophe mit einem mobilen Täter simuliert – also genau das Szenario, wie es bei dem Attentat stattgefunden hat. Und genau dabei wurde ein veralteter und unterbesetzter Notruf bei der Hanauer Polizei festgestellt. Habt ihr seitdem nichts gelernt?“

Doch auch politisches Versagen kreiden Gürbüz, Gültekin und Kurtovic den Amtsträgern in Wiesbaden und Berlin an. Seit dem Anschlag seien 35 Prozent mehr Waffenscheine ausgestellt worden und eine entsprechende Gesetzesänderung sei von der Waffenlobby verhindert worden, so Gültekin. „Auch der hessische Innenminister, Peter Beuth, verhöhnt uns Familien nur und spricht von exzellenter Polizeiarbeit. In Bezug auf die im Nachgang bekanntgewordenen rechtsextremistischen Beamten im SEK heißt es: ‚Nur weil die eine rechtsextreme Gesinnung haben, heißt es nicht, dass sie ihren Job nicht richtig machen!’ Diese Aussagen verletzen uns zutiefst.“ Gültekin meint, er könne noch von viel mehr Begegnungen mit Politikern erzählen, die diese Tat verunglimpfen würden. Ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag hat im vergangenen Jahr seine Arbeit aufgenommen und soll nun alle Hintergründe aufklären – auch die Familien der Opfer waren schon dabei und berichteten von ihren Erlebnissen.
„Der Rassismus in der Gesellschaft muss aufhören“, fordert Gürbüz. Diesem Appell schließt sich auch Hüseyin Hakki Musa an. Der türkische Sonderbotschafter aus Ankara ist extra für das Gedenken zum Anschlag in Hanau eingeflogen und spricht den Familien zum Abschluss des intensiven Gespräches Mut zu: „Rassismus ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und dem müssen wir entgegenstehen.“
„Hanau muss die Endstation sein, dass so eine Tat nicht noch mal passiert“, fordert Gültekin. „Keiner soll seine Kinder so wie wir, so kaltblütig ermordet, verlieren“, ergänzt Gürbüz. (Moritz Kegler)