Stummer Zeuge könnte viel erzählen

Langen - Am Abend des 23. Dezember 1918 besetzen französische Soldaten die Ortschaft Langen, die das östliche Ende des Mainzer Brückenkopfes markiert. Von Leo Postl
Es ist eine Folge des Versailler Vertrages zum Ende des Ersten Weltkrieges: Deutschland will die Reparationszahlungen nicht leisten; die Nachbarn fürchten einen weiteren Angriff. „Die drei Brückenköpfe, neben Mainz noch Koblenz und Köln, dienten den Franzosen als mögliches Aufmarschgebiet“, erzählt Wilhelm Ott, bekannter Grenzsteinforscher aus Götzenhain, fast ein Jahrhundert später seinen Zuhörern in der Langener Feldgemarkung. Die sind auf Betreiben des Verkehrs- und Verschönerungsvereins (VVV) angetreten, um den Grenzstein, der an die französische Besatzungszeit von Ende 1918 bis 1930 erinnert, wieder an seinen alten Standort zurückzuversetzen. Und so grüßt das steinerne Zeitdokument seit Kurzem wieder an der ehemaligen Dieburger Chaussee.
Langen als Grenzposten zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich: Dies war zunächst prinzipiell schlecht für die Sterzbachstadt, die sich mit der Zeit aber einer wesentlich besseren Versorgungslage erfreuen konnte als die Kommunen der Gemarkung Dreieich jenseits der Demarkationslinie. So steht es auch in den Blättern zur Heimatforschung zu lesen. Die französischen Soldaten klagten über ihre schlechte Behandlung durch die Langener Bevölkerung – gar verschimmeltes Brot soll man ihnen gegeben haben. So erwarben sie sich Gunst durch Güter, die es nicht gab, zum Beispiel Tabak oder Parfum. Der Schmuggel nach Sprendlingen, Dreieichenhain und Offenthal erlebte eine Blütezeit. „Menschen, die jenseits der Langener Gemarkung ihrem Broterwerb nachgingen, wurden täglich an der Grenze streng kontrolliert“, rekapituliert Heribert Gött, der das Langener Stadtarchiv betreut.
Zur Erinnerung an diese Zeit und diese ganz besondere Grenze, wurde später ein Grenzstein errichtet. „Ein hoher Stein gebietet uns Halt, von einigen Männern hingesetzt, um den Nachkommen noch Zeugnis von unserer Niederlage und dem Einbruch des Feindes bis in diese Gegend Deutschlands zu geben“, schrieben Wanderer, die den Weg von Langen nach Offenthal folgten. „Der Stein muss wohl so um 1932 oder 1933 gesetzt worden sein“, vermutet Grenzstein-Spezialist Ott.
Dem Neubau der Umgehungsstraße stand der Stein später allerdings im Weg und wurde entfernt. Der Heimatforscher Gerd Grein veranlasste 1970 schließlich, dass der Stein wieder an einen sichtbaren Ort gesetzt wurde. Bis vor Kurzem stand er am Weg oberhalb des Mühltals, nahe dem Paddelteich, wurde jedoch kaum wahrgenommen. Ein Vortrag von Wilhelm Ott vor zwei Jahren über die Besatzungszeit rückte den Grenzstein zumindest wieder ins geistige Blickfeld – so beispielsweise bei Heinz-Georg Sehring. „Ich habe dann an einer Sitzung des Denkmalbeirats teilgenommen und nachgefragt, ob dieser Stein schon in die Liste der geschützten Denkmäler aufgenommen worden ist“, schildert das Vorstandsmitglied des Verkehrs- und Verschönerungsvereins, wie er „den Grenzstein ins Rollen“ brachte.
„Ich habe mir gedacht, da muss es doch einen besseren Platz geben, wo dieser Stein zur Geltung kommt“, schildert Sehring. Also machte er sich auf die Suche – und wurde an der ehemaligen Dieburger Chaussee fündig. Dort fehlte nur noch der passende Grundstückseigentümer, der das Aufstellen erlaubte. Mithilfe der Stadtwerke Langen, die dort eine Gasstation betreiben, konnte auch dieses Problem gelöst werden. „Die Dieburger Chaussee wurde nie zurückgebaut und ist heute noch gut in Schuss. Und jetzt steht der Stein wieder fast genau dort, wo er einst gestanden hat, eben nur auf der anderen Straßenseite“, freut sich Sehring.
Dem Verkehrs- und Verschönerungsverein war es wichtig, dass der ehemalige Grenzstein zum markanten Termin 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs seinen endgültigen Standplatz gefunden hat. „Das hat alles bestens geklappt, dank verschiedener engagierter Langener Bürger, der Stadtverwaltung und der Stadtwerke“, will Sehring zwar viele Mitwirkende loben, aber keinen besonders herausstellen.