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Die Heimat fern von Bruchköbel

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Von: Holger Weber-Stoppacher

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Großer Auftritt beim Feuerwehrumzug in Roßdorf vor drei Jahren: Die Egerländer Gmoi Bruchköbel in den typischen Trachten ihrer Heimat.
Großer Auftritt beim Feuerwehrumzug in Roßdorf vor drei Jahren: Die Egerländer Gmoi Bruchköbel in den typischen Trachten ihrer Heimat. © Holger Weber

Bruchköbel – Auf dem Esstisch steht eine Flasche Sekt, die Gläser aus Kristall sind gut gefüllt. „Auf was trinken wir denn?“, fragt Gastgeber Willi Helm, bevor in gemütlicher Runde die Gläser erhoben werden: „Auf uns, auf das Egerland oder auf die Heimat?“ Eindeutig geklärt ist diese Frage freilich noch nicht, als die Gläser dann erklingen und der erste Schluck genommen wird.

Aber das macht auch nichts. Denn Heimat und Egerland, das ist für die kleine Runde ohnehin ein und dasselbe. Seit nunmehr 72 Jahren gibt es in Bruchköbel die Egerländer Gemeinde. Die „Gmoi“ wie es offiziell und im Egerländer Dialekt heißt.

Der Dialekt, der am Tisch gesprochen wird, klingt für den ungeübten Zuhörer wie Bayerisch. Kein Wunder, das Egerland, seit dem Zweiten Weltkrieg ein Teil des heutigen Tschechien, liegt an der Grenze zum Freistaat.

Willi Helm (87), Rosa Eckhardt (90) und Elli Steputat (83) haben das gleiche Schicksal: Sie wurden im Egerland geboren und als Kinder aus ihrer Heimat vertrieben. Günter Fritsch kam zwar in Hüttengesäß auf die Welt, wo seine Familie nach der Vertreibung 1946 landete, wuchs aber im Bewusstsein eines Egerländers auf. Und dann sitzen da noch Elfie Fritsch und Inge Helm mit am Tisch, die Ehefrauen, die eigentlich aus Köln beziehungsweise Frankfurt stammen, aber an der Seite ihrer Partner in die Egerländer Gmoi integriert worden sind. Dass die Gemeinschaft eine integrative Kraft ausstrahlt, lässt sich nicht zuletzt an der Geschichte von Rosa Eckhardt festmachen, die schon dabei war, als die Egerländer Gmoi gegründet wurde. Sie ist das letzte noch lebende Gründungsmitglied.

Vereinszweck ist Brauchtumspflege

Die 90-Jährige erzählt, dass ihr Mann Willi, eigentlich ein waschechter Bruchköbeler, sich mit den Zugezogenen aus dem Osten derart identifizierte, dass er ihren Dialekt übernahm, bei seinen Auftritten mit dem Akkordeon immer eine Egerländer Tracht trug und stets die Lieder aus der Heimat seiner Frau sang.

Der Vereinszweck ist die Brauchtumspflege. Man nimmt in Trachten an Umzügen teil – so wie zum Beispiel anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Feuerwehr in Roßdorf vor drei Jahren. Früher veranstaltete man zudem Maskenbälle und Maitanzveranstaltungen. Aber die Egerländer Gmoi ist auch so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft. Heute würde man wohl Selbsthilfegruppe sagen. Denn hinter der bunten Fassade der Brauchtumspflege galt das Zusammentreffen der Egerländer auch immer der Verarbeitung des Traumas, das Flucht und Vertreibung hinterlassen haben. „Da sind schon die Tränen geflossen“, berichtet Willi Helm von den bewegenden Momenten, als er bei Besuchen in der alten Heimat wieder vor seinem Elternhaus stand.

Zu 30 Personen waren die Familien damals, etwa ein Jahr nach Kriegsende, in Waggons gezerrt worden. Mit nicht mehr als 50 Kilogramm Gepäck pro Person. Tagelang verbrachte man in Lagern. „Momente, die man in seinem Leben nie vergisst“, sagt Elli Steputat. Und als es los ging, wusste niemand, wo die Reise einmal enden würde. Manchmal, wenn man auf der Fahrt durch Deutschland durch ein schönes Dorf gekommen sei, dann habe man gehofft, dass der Zug doch halten möge und man aussteigen dürfe, erzählt Rosa Eckhardt. Und dann habe die Fahrt schließlich in Bruchköbel geendet, sagt sie. Es solle nicht despektierlich klingen, aber: „Bruchköbel war damals wirklich ein kleines Kuhnest, wo man eigentlich nicht aussteigen wollte.“ Und nur die Wenigsten hießen die Vertrieben aus dem Osten willkommen, wo doch die meisten Menschen auch in Bruchköbel nach dem Krieg mit sich selbst genug zu tun hatten. Die Stadt war bereits voll, weil auch viele ausgebombte Hanauer in ihr Zuflucht gefunden hatten. Insgesamt müssen es so ungefähr 90 Egerländer gewesen sein, die 1946 in Bruchköbel ankamen – kurz nachdem in der alten Heimat die sogenannten Benes-Dekrete in Kraft getreten waren, die die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung in Tschechien zur Folge hatten.

In der zweiten Welle kamen die Spätaussiedler

In einer zweiten Welle kamen in den 60er Jahren die sogenannten Spätaussiedler hinzu. Zu einem Zeitpunkt, als sich die erste Generation in der Bruchköbeler Gesellschaft schon längst integriert hatte. Die Egerländer Gmoi traf sich seinerzeit regelmäßig im damaligen Gasthaus Schuster in der Bruchköbeler Altstadt. Das Lokal wurde von einem Egerländer betrieben. Man veranstaltete die Volksfeste der alten schließlich in der neuen Heimat. Insbesondere die Maskenbälle kamen gut an in der Stadt „Die waren bei den Bruchköbelern sehr, sehr beliebt“, weiß Willi Helm. Überhaupt habe das mit der Integration gut funktioniert, fügt Elli Steputat hinzu. „Die Egerländer galten als fleißig, bauten Häuser und gründeten eigene Geschäfte“, berichtet Elfie Fritsch und zählt einige der noch existierenden Bruchköbeler Unternehmen auf, die einst von Egerländern aufgebaut worden waren. Zu den Gründern gehörte im Übrigen auch Willi Helm, der Bäckersohn, der in die Fußstapfen seines Vaters trat und in Niederissigheim seine eigene Bäckerei eröffnete.

Politisch sei die Gmoi im Gegensatz zu vielen anderen Vertriebenen-Organisationen nie aktiv gewesen. Ansprüche auf eine Rückkehr in die Heimat seien nicht geäußert worden, zumindest nicht offiziell. „Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen“, sagt Elli Steputat.

Wie alle Vereine leidet auch die Egerländer Gmoi in Bruchköbel heute unter Nachwuchsmangel. Es gibt noch rund 60 Mitglieder. Dem Nachwuchs fehlt der enge Bezug zum Egerland. Nur vereinzelt sei es gelungen, die Gefühle der Eltern und Großeltern weiterzugeben, sagt Fritsch, dessen Enkel bei der einen oder anderen Aktivität der Großeltern dabei ist. „Aber ob das so bleibt, wenn er größer ist?“ Schon einmal stand der Verein 2001 kurz vor dem Aus. Damals sei es gelungen, durch die Hilfe des Landesverbandes die Ortsgruppe in Bruchköbel wiederzubeleben, erinnert sich Elfie Fritsch.

Erste Hauptversammlung nach zwei Jahren

Jetzt kamen die Mitglieder der Gmoi zusammen. Erstmals nach zwei Jahren gab es im Gasthof Leistner in Bruchköbel wieder eine Jahreshauptversammlung der Egerländer. Gefeiert wurde das 72-jährige Bestehen, das heißt eigentlich wird das Jubiläum zum 70. Geburtstag nachgeholt, das wegen der Coronapandemie vor zwei Jahren ausfallen musste. Die Freude ist groß. (Von Holger Weber)

Schwelgen in Erinnerungen: Elfie Fritsch (von links), Günter Fritsch, Elli Steputat, Rosa Eckhardt, Willi und Inge Helm. Auf dem Tisch zwei Puppen in typischer Tracht.
Schwelgen in Erinnerungen: Elfie Fritsch (von links), Günter Fritsch, Elli Steputat, Rosa Eckhardt, Willi und Inge Helm. Auf dem Tisch zwei Puppen in typischer Tracht. © -

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