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Bruchköbeler Horst Nünke: „Ich weiß, was Armut ist“

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Von: Holger Weber-Stoppacher

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Bilder, die auch Horst Nünke aus eigenem Erleben kennt: Flüchtlingstrecks wie dieser auf dem Archivbild der Deutschen Presseagentur zogen Richtung Westen, getrieben von der Roten Armee.
Bilder, die auch Horst Nünke aus eigenem Erleben kennt: Flüchtlingstrecks wie dieser auf dem Archivbild der Deutschen Presseagentur zogen Richtung Westen, getrieben von der Roten Armee. © dpa/Holger Weber

Bruchköbel – Jetzt sind die Bilder wieder da. Bilder, die Horst Nünke Zeit seines Lebens nie aus dem Kopf gegangen sind. Bilder von Menschen, die das Wichtigste was ihnen geblieben ist, in einen Koffer oder in eine Tasche gepackt haben. Frauen, denen die Angst ins Gesicht geschrieben steht. Die nur eines wollten: Ihre Kinder vor dem Krieg in Sicherheit bringen.

Für den langjährigen Vorsitzenden des Bruchköbeler Geschichtsvereins sind die allabendlichen Berichte in den Nachrichten vom Krieg in der Ukraine ein Déjà-vu. Als Junge hat er Flucht und Vertreibung am eigenen Leibe erfahren. „Ich weiß, was Armut ist und was es heißt, wenn man sich nicht sattessen kann“, sagt der 88-Jährige. Er könne den Menschen, die jetzt vor dem Angriffskrieg der Russen fliehen, sehr gut nachempfinden, sagt er nachdenklich. Nünke hat gespendet: für die Diakonie, für die Johanniter. Und er bete für die Menschen, sagt der gläubige Christ. Er tut das, was man mit 88 Jahren noch tun kann.

„Heimat kann man im Leben nur eine haben“

Nünke sitzt an seinem Wohnzimmertisch seines Hauses in Bruchköbel. Im Hintergrund läuft klassische Musik. „Ich höre eigentlich nur klassische Musik“, sagt er. Vor ihm ausgebreitet liegt eine alte Karte. Kreisstadt Schlawe steht in der Legende. Pommern. Im Dörfchen Natzmershagen, fünf Kilometer von der Ostsee entfernt, ist er im Februar 1934 geboren.

Nach wie vor sei dies seine Heimat, sagt er, obwohl er nach seiner Vertreibung nur achtmal wieder an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt erst. Das erste Mal war er übrigens Ende der 80er Jahre wieder dort, als sich der Eiserne Vorhang im Zeichen von Glasnot und Perestroika ein Stück weit gelüftet hatte. „Heimat kann man im Leben nur eine haben. Und die ist dort, wo man geboren ist“, sagt er. Sein Vater betrieb in Natzmershagen eine Mühle und einen Hof, der schon seit 1769 in Familienhand war. Nünke war der Jüngste von vier Brüdern.

Eltern in Arbeitslager verschleppt

Es war der 7. März 1945, also knapp einen Monat vor dem Ende des Kriegs, als die Russen Natzmershagen besetzten. Widerstandslos, denn deutsche Soldaten waren zu diese m Zeitpunkt keine mehr da. Es gab nur noch die Bewohner des Dorfs und einige gestrandete Flüchtlinge, die von der Roten Armee auf dem Weg aus West- und Ostpreußen eingeholt worden waren. Die Männer wurden von den Rotarmisten verschleppt, es kam zu Vergewaltigungen und Misshandlungen. Dies alles hat Nünke auch als Kind mitbekommen. Nünke erinnert sich noch, wie sein Vater sagte: „Das Land können sie uns nicht nehmen.“ Doch damit irrte er sich. Denn als die Russen weitergezogen waren, kamen die Polen auf den Hof. Im Mai 1946 wurden seine Eltern und weitere drei Ehepaare aus dem Ort in das polnische Arbeitslager Potolitz verschleppt. Nünke und zwei seiner Brüder, der vierte war bereits zur Wehrmacht eingezogen und in Gefangenschaft geraten, mussten wie Sklaven auf dem Hof arbeiten. Ohne Bezahlung und bei einer mehr als dürftigen Verpflegung.

Am 1. Juni 1947 wurden dann sämtliche Deutsche aus dem Dorf ausgewiesen, quasi von heute auf morgen. „In dem Moment haben wir es als eine Befreiung empfunden, denn so wollten wir nicht weiterleben. Für uns Deutsche war das Leben unter den Polen unerträglich geworden“, erzählt er.

Erinnerungen schriftlich festgehalten

Die Erinnerungen an die Vertreibung hat er auf einem mehrseitigen Manuskript festgehalten. Darin schildert er auch die Grausamkeiten, die den Menschen, die ohnehin alles verloren hatten, widerfuhren. Noch während des Fußmarsches in die 20 Kilometer entfernte Kreisstadt sei den Vertrieben das nur wenige Gepäck entrissen worden. „Wer sein weniges Handgepäck bei der recht großen Hitze nicht tragen konnte, es waren ja auch viele alte Menschen und Kinder unter uns, musste es wegwerfen. Wir wussten ja auch noch nicht, wie weit dieser Fußmarsch gehen würde und wohin er uns letztlich führen sollte.“

In Schlawe wurden die Flüchtenden dann in einen Güterzug gezerrt. Von dort aus ging es über Stargard, Posen, Grünberg, Altenburg nach Triebes in Thüringen in ein Quarantänelager.

Im Juni 1947 wurde dann sein Vater aus dem Arbeitslager entlassen. Trotz der nur spärlichen Kommunikationsmittel jener Zeit gelang es ihm, die Familie im Sommer 1947 wieder zusammenzuführen. In Wegeleben im Ostharz musten die Nünkes den Neustart wagen. Völlig verarmt in einer Baracke, in der es noch nicht einmal einen Tisch gab. „Es hat sich damals kein Mensch um uns gekümmert“, sagt Nünke. Ein Trost war für ihn, dass er nun endlich wieder zur Schule gehen konnte, wenngleich damals die ersten acht Jahrgänge in einer Klasse gemeinsam unterrichtet wurde. „Schulbücher besaß ich nicht.“ Und dennoch machte der Bruchköbeler seinen Weg und machte das, was er schon daheim von der Pike auf gelernt hatte: eine Lehre als Müller.

16 Jahre im Personalrat des Frankfurter Amtsgerichts

Wie sein Leben danach verlief, liest sich im Zeitraffer so: 1953 verließ er die DDR und folgte seinem ältesten Bruder nach Frankfurt. Dort begann beim Amtsgericht eine Laufbahn, zunächst auf unterster Ebene. Nünke arbeitete sich später in höhere Position vor und gehörte 16 Jahre dem Personalrat an. 1969 baute er dann in Bruchköbel sein Eigenheim, in dem er noch heute lebt.

Hass auf diejenigen, die ihn vertrieben haben, verspürt er nicht. Das verbiete ihm sein christlicher Glaube, so der 88-Jährige, der sich in der evangelischen Kirchengemeinde in Bruchköbel integriert fühlt. Vielmehr sei es Dankbarkeit für das, was ihm im Leben gegeben worden ist, sagt er und blickt raus auf seinen großen und grünen Garten, wo die ersten Gänseblümchen blühen.(Von Holger Weber)

Horst Nünke zeigt auf der Karte seinen Heimatort
Horst Nünke zeigt auf der Karte seinen Heimatort © -Holger Weber-Stoppacher

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