„Nach Wochen fühlen wir uns wieder sicher“

Bruchköbel – „Es ist hier ruhig, wir haben zu essen und die Menschen sind sehr freundlich zu uns“, sagt Marina Sarketova. Sie sitzt an einer der Bierbankgarnituren, die man in der Tischtennishalle im Bruchköbeler Sportzentrum zu langen Tischreihen aneinandergestellt hat. Das Mittagsessen ist gerade beendet worden, es sind nur wenige Menschen in dem Teil der Halle, der Speisesaal und Aufenthaltsraum zugleich ist.
Ihr elfjähriger Sohn Artem und die kleine Karolina (8) sitzen am Nebentisch und spielen mit anderen Kindern. Stabilität ist es, was die kleine Familie derzeit am meisten braucht und die sie in der Notunterkunft im Bruchköbeler Schulzentrum gefunden hat. „Erstmals seit vier Wochen fühlen wir uns wieder wirklich sicher“, sagt sie.
Serketova und ihre Kinder haben eine wahre Odyssee hinter sich. Bereits wenige Tage nach Ausbruch des Krieges fasste die Reiseleiterin den Entschluss, ihre Heimatstadt Odessa zu verlassen. „Ich wollte nicht warten, bis die Russen die Stadt einkesseln und niemand mehr rauskommt.“ Zurück blieben ihre Eltern, die sich zu alt fühlten für die beschwerliche Flucht. „Ich habe sie angefleht, uns zu begleiten, doch sie wollten nicht“. Ihr Mann, ein Matrose auf einem Handelsschiff, ist auf See, er hat noch einen Vertrag über vier Monate, dann wolle er nachkommen nach Deutschland.
Mit dem Bus quer durch die Ukraine
Ihre Flucht führte mit dem Bus quer durch die Ukraine. Zunächst nach Kiew, dann nach Lemberg. Statt sich in die überfüllten Züge nach Polen zu setzen, fasste sie spontan den Entschluss, den Bus Richtung Griechenland zu nehmen. Serketova spricht leidlich Griechisch, weil sie immer wieder Reisegruppen von dort ihre Heimatstadt gezeigt hat. In Athen machte sie jedoch keine guten Erfahrungen. Im Hotel wurde sie mit ihren Kindern nach acht Tagen kurzerhand auf die Straße gesetzt, weil der Betreiber die versprochenen staatlichen Hilfen nicht bekam. Und weil auch sonst keine Hilfe zu erwarten war, investierte sie ihr letztes Geld in drei Flugtickets nach Frankfurt. Seit Donnerstag nun ist sie in Bruchköbel und hofft darauf, dass sie vielleicht eine Wohnung bekommt. „Ich habe Geduld, ich bin keine Prinzessin, habe keine Ansprüche und verstehe gut, dass es nicht einfach für die Deutschen ist, so viele Menschen auf einmal unterzubringen“, sagt die 43-Jährige, die sich und ihre Kinder nicht fotografieren lassen möchte. Tagtäglich telefoniert sie mit ihren Eltern in Odessa und sie hofft, dass ihr Haus noch steht. „Wir haben eine schöne Wohnung“, sagt sie, während sie auf ihrem Handy Bilder zeigt. Volker Morr, der Leiter der Flüchtlingsunterkunft, sagt, Marina Sarketova sei für ihn so etwas wie eine Klassensprecherin. Weil sie gut Englisch spricht und weil sie eine starke Frau sei, die sich auch um die anderen Menschen in der Halle kümmert.
Unter den Geflüchteten spüre man untereinander generell eine große Solidarität, meint Monika Bornkessel, die stellvertretende Leiterin des Amts für Sicherheit, Integration und Migration beim Main-Kinzig-Kreis. Innerhalb von nur einigen Tagen habe sich in der Unterkunft so etwas wie ein Teamspirit herausgebildet. Jeder packe mit an und versuche seinen Teil dazu beizutragen, dass das Zusammenleben in der Halle gut funktioniere. Dabei sind in Bruchköbel nicht nur Flüchtlinge aus der Ukraine untergekommen, sondern auch Geflüchtete aus anderen Ländern. Auch zehn Muslime sind darunter, für die die Schulmensa wegen des jetzt begonnen Fastenmonats Ramadan spezielle Essenszeiten eingerichtet hat. „Die Leute bekommen ihre Mahlzeiten eingepackt und können sie abends in einer Mikrowelle aufwärmen“, erläutert Morr.
Gute Kommunikation wichtig
Wichtig sei vor allem eine gute und intensive Kommunikation mit den Menschen. Viele hätten bei der Ankunft keine Ahnung, wo sie sich überhaupt befinden. „Die erste Lektion, die wir nach zwei Wochen gelernt haben, ist, den Menschen zu sagen, wo sie sind und wohin sie gehen. Denn erst wenn sie ihr Ziel erreicht hätten, kämen sie wirklich zur Ruhe, so Kreispressesprecher Frank Walzer.
„Die meisten von ihnen wollen wieder zurück, sobald sie können“, weiß Viktoria Schur, eine 24-jährige Ukrainerin, die als Kind nach Deutschland kam und jeden Tag aus Viernheim anreist, um zu übersetzen. Die Bilder aus Butscha, die weltweit für Entsetzen sorgen, seien auch in der Notunterkunft ein Thema. Doch nicht wenige der Geflüchteten in Bruchköbel würden die Nachrichten nicht mehr verfolgen. Entweder, weil sie für sie unerträglich geworden sind oder weil sie kein Vertrauen mehr haben in die Berichterstattung.
Derzeit ist etwa die Hälfte der 40 Boxen, in der bis zu vier Feldbetten stehen, besetzt. Am Donnerstag werden neue Geflüchtete aus Gießen erwartet.
Bis ins dortige zentrale Aufnahmelager hat es auch ein 30-jähriger Iraner mit seinem eigenen Auto geschafft. Der Student der Flugzeugmechanik ist aus Kiew gekommen und wurde auf der Strecke in gleich zwei Verkehrsunfälle verwickelt, zuletzt in Berlin. Der Mann, dem der Iraner ins Auto gefahren ist, habe ihn aus Mitgefühl gleich ein paar Tage bei sich zu Hause aufgenommen, berichtet Morr von einem Geist der Hilfsbereitschaft, der auch in Bruchköbel zu spüren ist. Eine Frau, die eigentlich am Schulzentrum nur ihren Hund spazieren führte, sei am Abend mit einem Auto voller Wolldecken aus einem Bruchköbeler Fachgeschäft zurückgekehrt. Sie hatte an der Halle erfahren, dass es an Decken fehle, berichtet Morr. Und auch einen Kaninchenkäfig habe man durch das Netzwerk von Bruchköbels Bürgermeisterin Sylvia Braun in Windeseile aufgetan, so der Leiter.
Begrüßungsfest der Schule
„Wir haben in den vergangenen Tagen gelernt, Probleme zu lösen, von denen wir 20 Minuten zuvor noch nie gehört hatten“, zieht auch Thomas Giegerich eine positive Zwischenbilanz. Mit seiner Firma „Edison 8“ betreibt er die Notunterkunft in Bruchköbel als auch in Kürze in die in Langenselbold. Für den heutigen Mittwoch wird sein Team den Speisesaal in Bruchköbel vorbereiten. Aus der benachbarten Heinrich-Böll-Schule wird das Schulorchester erwartet. Es soll ein Begrüßungsfest geben. (Von Holger Weber)

