Wahlkreis Hanau: Der Tag danach

Main-Kinzig-Kreis – Der Tag nach der Wahl im Wahlkreis 180. Überraschungssieger Lennard Oehl (SPD) befindet sich schon auf dem Weg nach Berlin. Die Favoritin und Unterlege Dr. Katja Leikert will bald folgen. Im Gespräch mit unserer Zeitung arbeiten sie das Geschehen vom Wahlsonntag auf.
Lennard Oehl bittet um Geduld. Er sitzt im Zug nach Berlin, als ihn der Anruf unserer Zeitung erreicht. „Ich will die Fahrgäste hier nicht stören“, sagt er auf dem Weg in den Gang. Die Verbindung bricht immer mal wieder ab. Wenn man so will, ist es die erste Dienstfahrt für den frischgewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestags.
Am Sonntag hatte der Sozialdemokrat überraschend den Wahlkreis 180 für sich entschieden. Mit einem Vorsprung von etwas mehr als drei Prozent auf Dr. Katja Leikert, die Favoritin, die den Wahlkreis Hanau 2013 und 2017 gegen Oehls Vorgänger Sascha Raabe gleich zweimal deutlich gewonnen hatte.
Auch am Morgen danach sei es für ihn noch ziemlich unwirklich, was da am Tag zuvor geschehen sei, sagt er. Im Zug kann er die Ereignisse noch einmal Revue passieren lassen. Die zurückliegende Wahlnacht. Aber auch die Monate davor. Vor allem die letzten Wochen seien intensiv gewesen. Der 27-jährige Datenanalyst hatte sich freistellen lassen, um sich ganz auf den Wahlkampf konzentrieren zu können.
Oehl: „Ich habe nicht wirklich viel geschlafen“
Zwischendurch muss er im Zug immer mal wieder Nachrichten beantworten. Zumeist Glückwünsche von Freunden, ehemaligen Schulkameraden oder Mitstreitern aus dem Sportverein. Auch Katja Leikert hat ihm per SMS zum Wahlerfolg gratuliert. Die meisten seiner Parteifreunde waren am Abend noch nach Ostheim in den Bürgerhof gekommen: Landrat Thorsten Stolz, die Erste Kreisbeigeordnete Susanne Simmler, der Generalsekretär der hessischen SPD, der Neuberger Christoph Degen. Es war eine lange Nacht. Um zwei war er im Bett, berichtet Oehl. Aber geschlafen habe er nicht wirklich viel.
Die Fahrt nach Berlin hatte Oehl bereits lange vor dem Wahltag gebucht. Und er wäre auch gefahren, wenn er nicht gewonnen hätte, sagt er. Begleitet wird der Wahlsieger nach Berlin von seinem Vorgänger. Dr. Sascha Raabe. Er sitzt im gleichen Zug. Am Mittag hat man sich zum Essen im Bordrestaurant verabredet. Es gibt viel zu bereden über Berlin, die kommenden Wochen und Monate dort.
Ein Gefühl wie zum Uni-Start
Es sei ein Gefühl vergleichbar mit dem Start an der Uni. „Da musste man sich ja auch erstmals einfinden, sich die Abläufe klarmachen“, sagt Oehl. Ähnliches erwartet der Newcomer auch in der Hauptstadt. Für den Abend hat er eine Einladung für das Gartenfest des Seeheimer Kreises, dem konservativen Flügel der SPD. Die Einladung zu dem Treffen hatte er schon vor Monaten bekommen. „Für mich ist das eine gute Gelegenheit, ein Netzwerk aufzubauen, Leute kennenzulernen, die mir dabei behilflich sein können, erfahrene Mitarbeiter und auch eine Wohnung in der Hauptstadt zu finden.“ Heute und morgen wird Oehl zudem an den Einführungstagen teilnehmen, die die Fraktion für die Neuen organisiert hat.
Und natürlich werde es um Politik gehen in den nächsten Tagen, in denen in Berlin ein Regierungsbündnis geschmiedet werden soll. Inwiefern die Neuen dabei eingebunden werden, das wisse er nicht. Aber er werde sich da erst einmal zurückhalten. wenngleich er eine eindeutige Position habe: „Als stärkste Fraktion haben wir den Auftrag, eine Koalition zu bilden.“ Er sei erleichtert, dass ein Links-Bündnis nun nicht mehr zur Debatte stehe, denn das habe ihm am wenigsten behagt, bekennt er. Am naheliegendsten sei für ihn die Ampel, Grüne und FDP hätten schon ihr Interesse gezeigt, glaubt er.
Aber diese Woche in Berlin, die wolle er auch genießen: das erste Mal im Kreise der Fraktion, das erste Mal im Parlamentssaal.
Leikert über die Liste in den Bundestag
Zu genießen hat die Verliererin, Dr. Katja Leikert, dagegen in der Politik derzeit wenig. Die Stimmen waren ausgezählt, die Zweifel da, ob es klappen würde über die Landesliste. Es hat geklappt. Dr. Katja Leikert bleibt CDU-Bundesabgeordnete, obwohl sie ihr Direktmandat verloren hat, zog die Landesliste. Hier stand Leikert auf Platz fünf, nun ist sie Nummer drei auf der Liste –- hinter Kanzleramtschef Dr. Helge Braun und Patricia Lips.
Selbstverständlich, sagt Leikert, in der ihr eigenen, etwas kühlen Art, habe sie sich darüber gefreut. „Ich mache meine Arbeit in Berlin sehr gerne. Ich habe in der zweiten Amtszeit viel bewirkt für meinen Wahlkreis, das will ich auch in der dritten fortführen.“
Leikert verweist auf die Gelder. Insgesamt eine Milliarde Euro, die für den Bau der Nordmainnischen S-Bahn eingestellt worden sind, weitere Millionen, die in die Sanierung von Schloss Philippsruhe oder Wilhelmsbad investiert werden – „all das hätte es ohne mein Zutun nicht gegeben.“ Vieles dauere zwar seine Zeit, so Leikert, aber sie freue sich über jedes Projekt, das ausgerollt werde.
Christdemokratin hofft auf gute Zusammenarbeit
Die Christdemokratin hofft auf gute Zusammenarbeit, auf ein gutes Miteinander mit Lennard Oehl, dem Überraschungssieger. „Ich hoffe, dass er genauso viel für den Wahlkreis tut, wie ich.“
Und wie soll’s weitergehen mit der CDU auf Bundesebene? Kanzlerschaft? Opposition? „Das wird sich in den nächsten Tagen klären“, ist sich Leikert sicher. Dass Armin Laschet, den sie menschlich sehr schätze, sich als Spitzenkandidat für die Kanzlerschaft ausspreche, sei doch verständlich. „Die Wählerwanderung ist die viel interessantere Zahl“, findet Leikert. 2,2 Millionen haben ihr Kreuzchen am Sonntag nicht bei der CDU, sondern bei SPD oder Grünen gemacht. „Was heißt das für uns Wie positioniert sich die CDU? Das sind Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen“, so die 46-Jährige. „Ganztagsbetreuung für Kinder, soziale Fragen – das alles müssen wir stärker aufnehmen.“ Leikert spricht sich im Interview mit unserer Zeitung klar für eine „Jamaika“-Koalition aus CDU, SPD und FDP aus. „Ich könnte mir vorstellen, dass das passt.“ Und wer soll dann Kanzler werden? „Das muss man sich genau angucken. Da muss die CDU dann flexibel sein.“
Katja Leikerts Terminkalender jedenfalls ist voll. Nach der Konstituierung der zwölfköpfigen Landesgruppe („…mit nur zwei Frauen, was diskutiert werden muss“) am Montagmittag und dem Landesausschuss gestern Abend, geht es für sie ebenfalls nach Berlin, wo sich heute die Fraktion konstituiert. „Es bleibt spannend“, sagt Katja Leikert am Ende des Gesprächs. Ja, das bleibt es. (Holger Weber und Yvonne Backhaus-Arnold)
