Heimat Integrativer Wohnpark Erlensee

Erlensee – Ein sonniger Tag. Hinter dem Integrativen Wohnpark des Vereins Selbsthilfe Körperbehinderter Hanau/Gelnhausen (SHK) blüht es bunt und vielfältig in den Rabatten, die um die Tischgruppen auf einem kleinen Platz arrangiert sind. Das Plätschern eines künstlichen schmalen Wasserlaufs komplettiert die Idylle, die an Urlaub erinnert und mitten in Erlensee liegt – gegenüber dem Hallenbad und der Erlenhalle.
Silvia Zerst (Name geändert), die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sitzt in ihrem Rollstuhl neben einer Bank und blickt auf die Blumen. Ihre Haltung ist etwas eingesunken, ihre Hände sind abgespreizt und wenn sie spricht, dauert es ein wenig, bis sie die Wörter geformt hat. „Meine Feinmotorik ist etwas im Eimer“, lacht sie und ihre Augen blitzen dabei schelmisch. Die 56-Jährige ist zeit ihres Lebens körperlich durch eine Spastik eingeschränkt.
Sauerstoffmangel bei der Geburt
„Seit meiner Geburt ist das so, Sauerstoffmangel bei der Geburt“, erklärt sie und ergänzt schulterzuckend: „Es gibt Schlimmeres, ich kenne es nicht anders, darum ist es ziemlich egal für mich.“ Wieder lächelt sie und strahlt einen ganz besonderen Optimismus aus.
Sie hat insgesamt eine positive Einstellung, sogar zur Pandemie: „So schlimm war es auch wieder nicht“, sagt sie zu den Corona-Einschränkungen. Ja, es mussten viele Zusammenkünfte ausfallen: die wöchentliche Spielgruppe oder der Kaffeetreff alle zwei Wochen im Wintergarten des Wohnparks. Die monatliche MS-Kegelgruppe in Hanau ist auch ausgefallen. Und die Ergotherapie für ihre Hände konnte sie lange nicht mehr wahrnehmen, weil die Ergotherapeutin trotz Schutzmasken das Risiko nicht eingehen wollte. „Das war ihr zu viel Nähe, das verstehe ich auch.“ Glücklicherweise hätte zumindest die Krankengymnastin die Behandlung fortgesetzt.
Sie hat gelernt, sich mit negativen Dingen zu arrangieren
Aber immerhin konnte sie draußen und mit Maske und Abstand eine Freundin treffen. „Als ich noch nicht geimpft war, da war es ein größeres Problem, aber jetzt ist einiges wieder möglich.“ Außerdem ist sie die ständige Berichterstattung über Corona leid. Denn Silvia Zerst hat gelernt, sich mit unerfreulichen Situationen zu arrangieren und trotz aller Hürden ihr Leben zu genießen.
Seit 15 Jahren lebt sie im Integrativen Wohnpark, der im Bestandsbau 61 barrierefreie Sozialwohnungen bietet. „Insgesamt 118 Menschen wohnen hier“, sagt Uwe Schneider, Vorsitzender des SHK-Vereins. Senioren, junge Familien und behinderte Menschen wohnen in gemeinsamer Nachbarschaft. „Dieser Inklusions-Gedanke ist uns sehr wichtig“, so Schneider, der seit 28 Jahren dem Verein angehört und seit 20 Jahren dessen Vorsitzender ist. Der Wohnpark sollte auf keinen Fall ein Ghetto für Behinderte sein, betont Schneider, der seit einem Autounfall in seiner Jugend querschnittsgelähmt ist.
„Ich wohne sehr gerne hier“, sagt Silvia Zerst, „was Besseres für Behinderte kann man sich nicht vorstellen“. Denn hier kann sie selbstbestimmt und unter Menschen leben. Zerst ist im betreuten Wohnen und erhält Hilfe bei Arzt- oder Behördengängen. Beim Essen hilft ihr eine Pflegerin vom Pflegedienst.
Je länger das Gespräch dauert, desto mehr entschleunigt es die Besucherin. Silvia Zerst erzählt langsam und bedacht von ihrem Leben. Aufgewachsen ist sie in einem Reha-Zentrum. „Das war wie ein Internat.“ Ihre Eltern sieht sie nur in den Ferien oder manchmal an Wochenenden, das sei früher so gewesen im Umgang mit behinderten Menschen, zuckt sie die Schultern. Vom Internat aus hat sie eine Regelschule besucht. „Das war gut, die anderen haben dann gesehen, dass wir nicht dumm sind.“ Denn geistig ist Silvia Zerst topfit, umso mehr schmerzen die Vorurteile, die ihr begegnen. „Die kann ja noch nicht mal richtig reden, die ist dumm“, hat sie oft zu hören bekommen.
Verunsicherung der Menschen im Umgang mit ihr
Solchen Menschen geht sie aus dem Weg, dafür schätzt sie es, wenn sie offen auf ihre Behinderung angesprochen wird. „Dann erkläre ich, was mit mir los ist.“ Sie spürt immer wieder die Verunsicherung der Menschen im Umgang mit ihr. „Aber so eine Unsicherheit gibt es bei mir auch, zum Beispiel ob ich jemanden ansprechen und um Hilfe bitten kann.“
Nach der Schule kommt sie in die nächste Reha-Einrichtung nach Neckargmünd, um eine Ausbildung zu machen. „Weil ohne Beruf, das ist ja nichts.“ Auf Anraten des Arbeitsamtes wird sie Industriekauffrau. Als sie fertig ist, zieht sie mit ihrem damaligen Partner für viele Jahre an den Bodensee. Dort findet sie eine Arbeitstelle, die ihr viel bedeutet. „Das hat großen Spaß gemacht, ich habe mich leistungsfähig gefühlt, dass ich für mein eigenes Geld arbeiten kann. Das hat mich glücklich gemacht, dass ich nicht immer nur zu Hause sitzen musste.“
Leider schließt die Firma bei der sie angestellt war und sie zieht wieder in ihre Geburtsstadt Hanau. Dort bezieht sie eine nicht barrierefreie Wohnung und ist dadurch stark eingeschränkt. „Ich konnte nicht alleine raus und hatte keinen sozialen Anschluss“, erzählt sie und fügt leise hinzu: „Ich war ziemlich alleine dort in Hanau.“
Uwe Schneider kennt das Problem. „Der Bedarf an barrierefreien bezahlbaren Wohnungen ist enorm“, so der SHK-Vorsitzende. Für die 22 Wohnungen im aktuellen Neubau des Vereins habe er über 100 Bewerber gehabt. Teilweise stünden die Menschen seit fünf Jahren auf der Warteliste. Denn nicht nur behinderte Menschen brauchen Barrierefreiheit, sondern auch Senioren mit Alterskrankheiten.
Anfang Oktober soll der Neubau an der Langendiebacher Straße bezogen werden. Insgesamt 5,3 Millionen Euro betragen die Baukosten. Der 61-Jährige betont: „Es kann aber grundsätzlich nicht die Aufgabe eines gemeinnützigen Vereins sein, hoheitliche Aufgaben wahrzunehmen.“
Normalen Wohnraum gibt es in Erlensee nicht unter 8 Euro
Einen Investor zu beauftragen wäre keine Lösung, der sei schließlich auf Profit ausgelegt. Und das gerade will der SHK nicht. So kostet im Bestandsbau, wo Silvia Zerst wohnt, der Quadratmeter Wohnfläche 6,60 Euro Kaltmiete, im Neubau werden es 7,50 Euro sein. Schneider sagt, normaler Wohnraum sei in Erlensee nicht unter 8 Euro pro Quadratmeter zu haben.
Unter den 61 Menschen, die im Bestandsbau leben, seien zehn Schwerstbehinderte. „Die hätten auf dem normalen Wohnungsmarkt keine Chance. Die wären sonst im Heim“ Er ist überzeugt, dass sehr viele behinderte Menschen nicht in kostspieligen Heimen untergebracht werden müssten, wenn es adäquaten Wohnraum für sie gäbe. Und Schneider betont: „Nicht behindert zu sein ist eine Gabe, die einem jederzeit genommen werden kann.“ Der Verein, der in zwei Jahren 50 Jahre alt wird, habe heute darum vor allem ein Ziel: „Wir wollen die Barrieren in den Köpfen der Menschen abbauen.“
Unterdessen hat sich Silvia Zerst im Garten des Wohnparks in den Schatten gesetzt. Und erzählt, dass sie nach ihrer ersten Arbeitstelle nie wieder Arbeit gefunden hat und dass das Arbeitsamt ihr irgendwann geraten hat, Frührente zu beantragen. Sie ist zufrieden mit ihrem Leben, geht manchmal ins Kino, fährt in die Eisdiele am Rathaus, plant ihren ersten Urlaub. Manchmal hat auch sie einen schlechten Tag. „Aber das hat doch jeder Mensch. Dann denke ich einfach wieder an was Schönes“, sagt sie und lacht.(Monica Bielesch)