Hanauer Prozess um Mord ohne Leiche wird zu Terabyte-Spektakel

Der Prozess um den Mord ohne Leiche könnte zu einem Mammutprozess werden. Vor allem, weil es das Gericht nun mit einer Datenflut zu tun bekommt. Über einen Terabyte Daten hat die Hanauer Kripo nun nachgeliefert. Das dürften rund 250 000 Bilder aus Überwachungskameras sein.
Hammersbach/Maintal/Hanau – Landgerichtspräsidentin Susanne Wetzel ist nicht unbedingt ein „digital native“ – also von Kindesbeinen an eine IT-Spezialistin. Aber sie ist pragmatisch und bevorzugt schnelle Lösungen. „Dann geben Sie mir doch bitte mal ihren USB-Stick“, bittet sie Pflichtverteidiger Johannes Hock, der seinen Laptop durchforstet hat und feststellt: „Was ich nicht hab’, das hab’ ich nicht.“
Zum Glück ist die Hanauer Justiz im digitalen Zeitalter angekommen. So werden mit wenigen Knopfdrücken Akteninhalte für den Rechtsanwalt kopiert. Unterlagen, die für die drei Verteidiger von Ralf H. (58) wichtig sind. Denn ihr Mandant muss sich wegen Mordes vor dem Schwurgericht verantworten. Er soll laut Anklage seinen Vermieter Alojzij Z. (79) am 21. Januar in Hammersbach-Langen-Bergheim in einen Hinterhalt gelockt und heimtückisch getötet haben (wir berichteten). Anschließend soll H. den Porsche Cayenne des Opfers nach Maintal-Bischofsheim gefahren und dort am Kreuzstein/Bruno-Dreßler-Straße abgestellt haben. Von der Leiche fehlt bislang jede Spur.
Um weitere Zeugenaussagen oder Sachbeweise geht es an diesem Verhandlungstag überhaupt nicht. Und so sitzt der Angeklagte auch ziemlich ratlos mitten in seinem Verteidiger-Trio. Dieser Prozesstag ähnelt eher einem Daten-Spektakel. Denn bei dem inzwischen gefüllten USB-Stick bleibt es nicht. Es fühlt sich an wie bei einer vorgezogenen Bescherung vor dem Schwurgericht: Auf der Anklagebank steht ein Karton, wie er nach dem Auspacken auch unter einem Weihnachtsbaum zu finden sein könnte. Der Inhalt: eine Festplatte mit rund einem Terabyte Kapazität.
Hanau: Verteidiger fordern Abbruch der Hauptverhandlung
„Sie haben nun auf dieser Festplatte die komplette Akte“, verkündet die Vorsitzende. Es sind offenbar alle Unterlagen der „AG Cayenne“, jener Sondereinheit der Hanauer Mordkommission, die in dem Fall ermittelt hat. Und genau das ist der juristische Knackpunkt: Zum Beginn der Verhandlung war die Akte nicht vollständig. Vor allem im Bereich des Videomaterials aus zahlreichen privaten und gewerblichen Überwachungskameras in Hammersbach und Maintal. Aus dieser Flut von Bildern hat die „AG Cayenne“ die – aus ihrer Sicht – wichtigsten Videodateien zusammengestellt und sie an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Aber eben nur diese Zusammenfassung.
Zwar sind die drei Verteidiger in den vergangenen Verhandlungstagen schon einmal mit einer Festplatte „beschenkt“ worden, doch dabei gab es ein Versehen, denn auf dem Datenträger befanden sich neben dem Videomaterial des Falls auch rund sechs Terabyte weiterer Daten – die zu einem ganz anderen Strafverfahren gehören.
Kritik der Verteidiger: Akte ist nicht vollständig
Genau das bringt die drei Verteidiger von H. auf die Palme. Ihr Vorwurf: Die Gerichtsakte ist nicht vollständig, weil beispielsweise die Rohdaten der kompletten Videoüberwachung nicht vorhanden sind. Daher kommt die Beweisaufnahme an diesem Donnerstag auch nicht weiter, denn Rechtsanwalt Markus Leonhardt stellt gleich zu Anfang einen mehrseitigen Antrag, der es in sich hat: Die Verteidigung stellt den Antrag, das Verfahren auszusetzen. Im Klartext: Der seit Mitte November laufende Prozess müsste komplett neu beginnen.
„Wir haben jetzt eine Festplatte, aber wir wissen nicht, was darauf ist“, sagt Leonhardt. Das Recht der Verteidigung, sich gründlich auf den Prozess vorzubereiten, sei beschnitten worden. Die Sichtung von einem Terabyte, schätzungsweise 250 000 Fotos, sei für die drei Rechtsanwälte nicht ohne größeren Zeitaufwand möglich.
„Das ist suboptimal verlaufen“, meint auch die Vorsitzende. Doch sie will den Anwälten Zeit einräumen und schlägt bereits neun weitere Verhandlungstermine vor – bis in den März hinein. (Von Thorsten Becker)