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Wladimir Kaminer nimmt bei Selbolder Auftritt auch eigene Familie aufs Korn

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Wladimir Kaminer begeisterte das Publikum in der Klosterberghalle und nahm dabei vor allem Begebenheiten aus der Corona-Zeit aufs Korn.
Wladimir Kaminer begeisterte das Publikum in der Klosterberghalle und nahm dabei vor allem Begebenheiten aus der Corona-Zeit aufs Korn. © Anja Goldstein

Angekündigt waren Ausschnitte aus seinem bekanntesten Werk „Die Wellenreiter“, doch Bestsellerautor Wladimir Kaminer entschied sich bei seiner Selbolder Lesung dann doch anders. So stellte er den knapp 200 Zuschauern in der Klosterberghalle Kolumnen wie „Der Gurkensalat der Apokalypse“, „Frag deine Eltern“ oder noch unveröffentlichte Texte vor. Dabei wechselte das Multitalent gekonnt und charmant immer wieder zwischen freier Erzählung und vorbereitetem Text.

Langenselbold – Wladimir Kaminer schreibt nicht nur zwei bis drei Bücher im Jahr, sondern nimmt auch Hörgeschichten auf, dreht Filme für 3-Sat und gilt als „Experte für alles“, auch wenn er davon keine Ahnung habe. Schon die Begrüßung deutete den Humor an, mit dem sich die Gäste den Abend über vertraut machen konnten: „Ich dachte, ich habe schon alles gesehen. Aber in Langenselbold war ich noch nie. Jetzt kann man behaupten: Wer in Langenselbold war, hat tatsächlich alles gesehen.“

Erste gemeinsame Veranstaltung der beiden Buchhandlungen

Die Veranstaltung war lange geplant und musste coronabedingt immer wieder verschoben werden. Als erstes Gemeinschaftsprojekt der beiden Buchhandlungen „Büchermeer“ und „Herrn Mayers Buchladen“ habe es etwas gedauert, bis man einen aktuellen Autor gefunden hatte, den sowohl Bärbel Tárai als auch Matthias Mayer gerne lesen. Umso größer war die Freude, als Wladimir Kaminer zusagte.

Der Autor zeigt in seinen Kolumnen ein untrügliches Gespür für Situations- und Alltagskomik. So erzählte er zum großen Vergnügen der Zuschauer, wie seine Mutter von ihren Enkeln ein Smartphone geschenkt bekam, inklusive eingerichteter Kindersperre. „Nur Kinder können die Kindersicherung knacken, Erwachsene haben dafür keine Geduld.“

Immer wieder bezieht Kaminer Geschichten über seine Mutter mit ein

Doch die rüstige Rentnerin wollte auf der Höhe der Zeit sein, Selfies mit der Katze ihrer Schwester in Russland schicken und Gesundheits- und Horoskop-Apps nutzen. „Ihre liebste App ist der Schrittzähler. Dafür nimmt sie das Handy sogar nachts mit auf die Toilette. Denn: Jeder Schritt zählt“, berichtete Kaminer.

Er sah sich auch außerstande, die ursprünglich für seine Tochter eingerichtete Kindersicherung zu entsperren – denn seine Mutter bekam ständig die Nachricht: „Frag Deine Eltern, ob du spielen darfst“, was sie in schwere Melancholie versetzt habe. Nach einem amüsanten Ausflug über die Tücken von Passwörtern gab sich Kaminer geschlagen und seiner Mutter fortan die Spiele frei. „Ich bin zum Elternteil meiner Mutter geworden!“ Ein Ausruf, den das Publikum mit großem Gelächter quittierte.

Das galt ebenso für seine kleine Anekdote über ehemalige Haustiere: „Meine Mutter hatte mal eine Katze. Sie hat sie im Kohlekeller gefunden und war ganz schwarz. Nachdem sie die Katze in die Küche geholt und sauber gemacht hat, war sie ganz weiß. Deshalb hieß sie ‘Weißafrikaner’.“

Auch der Hamster, der einen Magneten in der Backentasche versteckte, vom Kühlschrank angezogen worden war und deshalb mit seinem Kopf an dessen Tür klebte, sorgte für große Erheiterung. Algorithmen, die der Mutter lieber Gurkensalatrezepte und Kaminer selbst den neuesten Klatsch von „dem Wendler und seiner Laura“ als echte Nachrichten vorschlug, regten ebenfalls zu viel Heiterkeit an, denn „Algorithmen halten die Apokalypse fern“.

Schon drei Bücher mit Coronabezug

Die zuletzt erschienenen Werke „Die Wellenreiter“, „Deutschland raucht auf dem Balkon“ und „Rotkäppchen raucht auf dem Balkon“ handeln alle von Kaminers Erlebnissen während der Pandemie. „Man kann nachblättern, wie alles angefangen hat.“ Geplant war, dass das erste Buch, dass er im März 2020 angefangen hatte, zum Ende der Pandemie fertig sein sollte. „Nun ist es bereits eine Trilogie – und kein Ende in Sicht.“

So stellte der in Russland aufgewachsene Schriftsteller mit gespielter Empörung fest: „Brandenburg hatte kein Corona! Erst jetzt! Zu Ostern! Die Idioten!“ Und er berichtete von seiner Mutter, die vor leeren Regalen im Supermarkt stand und sich wehmütig an die russische Heimat erinnert fühlte. „Kein Klopapier zu bekommen, ist für meine Mama kein Problem. Die weiß genau, welche Zeitung sich eignet und dass man lieber nicht die Titelseite nehmen sollte, weil da zu viel fett gedruckt ist und zu viel Druckerschwärze abfärbt.“

Mit Kutschpferden bei Neuschwanstein, die aufgrund mangelnder japanischer Touristen unter Muskelschwund litten, bis zu Zeugen Jehovas, die sich endgültig in ihrer Apokalypse bestätigt fühlten, erhielt das Publikum einen Rundumblick auf die komischen Seiten einer verrückten Zeit. Und es genoss jede Sekunde davon. In der Pause und zum Schluss des Abends durften sich die Gäste Autogramme sichern, und Wladimir Kaminer stand gerne bereit für einen kleinen Small Talk.

Von Anja Goldstein

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