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Aus dem Leben eines Staatsfeindes: Joachim Heise spricht vor Schülern der AES über seine Zeit in der DDR

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Gespannt lauschten die Schüler der Albert-Einstein-Schule den Erzählungen von Joachim Heise, der in der DDR von der Stasi schikaniert wurde.
Gespannt lauschten die Schüler der Albert-Einstein-Schule den Erzählungen von Joachim Heise, der in der DDR von der Stasi schikaniert wurde. © Bettina Merkelbach

Die meisten seiner Zuhörer haben den 9. November 1989 noch nicht erlebt – den Tag, an dem sich die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland zu öffnen begann. Umso wichtiger ist es, dass sich junge Menschen mit Zeitzeugen auseinandersetzen. Daher hat der Fachbereich 2 der Albert-Einstein-Schule (AES) gemeinsam mit dem Brüder-Schönfeld-Forum Joachim Heise am Dienstagmittag in das Atrium der AES eingeladen.

Maintal – Dabei stand weniger der Mauerfall an sich und mehr die Lebensgeschichte des 77-jährigen Zeitzeugen im Mittelpunkt, seine Kindheit und Jugend im thüringischen Nordhausen, die Bespitzelung und Repressalien, die schließlich zu seinem Ausreiseantrag 1980 geführt haben. In einer eindrücklichen Erzählung berichtete Joachim Heise aus seiner persönlichen Lebensgeschichte, die zum größten Teil in der DDR spielt. Er zeigte Einträge seiner „OPK-Akte“ – die Abkürzung steht für „operative Personenkontrolle“ – und lieferte Erklärungen für diesen und weiterer Begriffe, die bis heute untrennbar mit dem sozialistischen Regime der DDR verbunden sind.

Gebannt lauschten die Oberstufenschüler dem Vortrag des Zeitzeugen, dessen Erlebnisse Welten von ihrer eigenen Lebensrealität trennt. Die Jugendlichen gewannen eine Vorstellung davon, wie das war, in der Schule Schikanen zum Opfer zu fallen, weil die Eltern nicht der SED angehörten, von Arbeitskollegen bespitzelt zu werden.

Abneigung gegen die DDR entwickelt sich früh

Heise wurde 1944 in Erfurt geboren und wuchs in einer bürgerlichen, christlichen Familie auf. Sein Vater war Architekt; gegenüber „Arbeiter- und Bauernkindern“ hatte er das Nachsehen und musste Schulbücher und Schulessen bezahlen. „Daraus hat sich nach und nach eine Abneigung gegen die DDR entwickelt“, erzählt Heise den Schülern.

Auch seine Studienzeit war geprägt von Schikanen, weil er kein SED-Mitglied war. Nach dem Studium wurde er, zu alt für den Wehrdienst, in die „Kampfgruppe“ eingezogen. Doch die Beteiligung an der paramilitärischen Organisation der SED kam für Heise nicht in Frage. Er kündigte. „Das war der Anfang vom Ende“, sagt er heute.

Ausreiseantrag ruft Stasi auf den Plan

In seinem Betrieb wurde er daraufhin diskriminiert, er erhielt keine weiteren Aufgaben mehr. Der Entschluss wuchs: Er wollte mit seiner Familie in die Bundesrepublik ausreisen und stellte im April 1980 einen Ausreiseantrag. „Wir wollten einfach nur selbstbestimmt leben“, erklärt Heise rückblickend. „Selbstbestimmung hielt sich in der DDR sehr in Grenzen. Das war kein erfülltes Leben.“

Doch der Ausreiseantrag rief die Stasi auf den Plan. Heise wurde ab dem Zeitpunkt in seiner Firma bespitzelt. „Aus meiner Akte konnte ich später sehen, dass insgesamt 16 Personen auf mich angesetzt waren“, sagt er. Sie protokollierten, was er sagte, wo er sich aufhielt. Warum die Stasi so viele Mitarbeiter hatte, will ein Schüler wissen. „Die inoffiziellen Mitarbeiter erhielten viele Vorzüge: Urlaub, einen Studienplatz, eine Zuweisung für ein Auto“, erklärt Heise – Dinge, die in der zentralen Planwirtschaft heiß begehrt waren. Immerhin konnte die Wartezeit auf ein eigenes Auto ohne bevorzugte Behandlung bis zu 14 Jahre dauern.

Heise wurde in der DDR zum Staatsfeind

„Ich war als Staatsfeind abgestempelt und als solcher untragbar geworden“, beschreibt Joachim Heise die Reaktion auf den Ausreiseantrag. Er wurde sofort von sämtlichen Funktionen entbunden, war kein „Gruppenleiter“ mehr, durfte nicht mehr in der Gewerkschaft und überbetrieblichen Arbeitsgruppen mitarbeiten. Die Stigmatisierung übertrug sich auch auf seine beiden Kinder. Seine Tochter durfte zum Beispiel nicht mehr mit ins Ferienlager. „Die Zeit wird einem lang, wenn man nichts tun kann“, erinnert sich Heise.

Joachim Heise trat in den Hungerstreik, wurde inhaftiert und als politischer Häftling von der BRD freigekauft.
Joachim Heise trat in den Hungerstreik, wurde inhaftiert und als politischer Häftling von der BRD freigekauft. © Bettina Merkelbach

Er suchte Hilfe bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin, und trat, als auch dies nichts bewirkte, in Hungerstreik. Dieser Plan ging auf: Da er nicht arbeiten durfte, solange er nichts aß, nahm die Stasi Heise im Mai 1983 fest. „Das war meine volle Absicht und ein gut vorbereiteter Schritt, bei der Stasi zu landen. Wir haben keinen anderen Weg gesehen, als über Gefängnis und Freikauf.“ Heise kam zunächst für drei Monate in Untersuchungshaft in Erfurt und anschließend in Strafhaft im Zuchthaus Cottbus. Der Haftbefehl lautete auf „landesfeindliche Agententätigkeit“ und „Widerstand gegen die Staatsgewalt“.

Joachim Heise muss für drei Jahre ins Gefängnis

Drei Jahre Haft sollte er in Cottbus absitzen – eine Zeit, die er als unerträglich beschreibt. Mit 14 Häftlingen teilte er sich eine Zelle; eine Stunde täglich durfte er an die frische Luft. Seine Hoffnung: Einmal pro Woche fuhren Omnibusse nach Chemnitz, von wo politische Häftlinge von der BRD freigekauft wurden. Am 14. Juni 1984 war es so weit: Joachim Heise durfte mit seiner Familie in die Bundesrepublik ausreisen und kam über Gießen nach Nürnberg. „In einem Durchgangslanger konnten wir ins Leben zurückfinden“, sagt er heute.

Anders als die meisten Mithäftlinge war Heise nicht traumatisiert. „Die Zeit hat nicht allzu viele Narben an meiner Psyche hinterlassen, weil ich mich darauf vorbereitet hatte. Deshalb fällt es mir heute nicht schwer, darüber zu reden.“ Bei Degussa in Hanau fand er Arbeit und erfuhr viel Hilfsbereitschaft. „Ich habe das nie bereut und würde es wieder tun“, sagt Heise.

Nach 18 Jahren in Hessen zog es ihn 2002 zurück nach Thüringen. Dass ihm dort ehemalige Spitzel über den Weg laufen, ist bis heute kein Problem für ihn. „Ich habe mit einigen von ihnen gesprochen. Einer hat sich bei mir entschuldigt“, erzählt er.

Zeitzeuge: „Ich vermisse nichts an der DDR“

Den 9. November 1989 hat er mit Freunden im Harz erlebt. „Plötzlich ging die Nachricht durch das Hotel, dass die Grenze aufgeht“, erinnert er sich. „Das war ein erhebendes Gefühl.“ Er sah, wie der Zaun aufgerollt wurde, wie erst wenige, dann immer mehr Leute die ehemalige Trennlinie zwischen Ost- und Westdeutschland überschritten. „Ich vermisse nichts an der DDR“, beantwortet Heise die Frage aus der Zuhörerschaft, ob er so etwas wie Ostalgie empfinde. Aber er will die Erinnerung mit Vorträgen wie diesem wach halten.

Von Bettina Merkelbach

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