Damit Inklusion zur Normalität wird

Maintal – Leonard schiebt mit aller Kraft, bis sich die Räder bewegen und er die gerade Strecke Zug um Zug entlangrollt. Um die große Kurve auf dem Weg zum Hütchen-Slalom zu kriegen, braucht er dann aber doch Egbert Leistners Hilfe. Und erst recht, als er versucht, mit dem Rollstuhl das Brett, stellvertretend für Bordsteinkanten und andere Stufen, zu überqueren.
Was der Vierjährige angestrengt und nur mit Anschub von hinten meistert, das bewältigen Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, täglich, fast rund um die Uhr. Dafür ein Bewusstsein zu schaffen, indem man die Perspektive wechselt und den Blick für Menschen mit Behinderung öffnet, war Ziel des ersten „Tags der Inklusion“, den das Kinder- und Familienzentrum Eichenheege am vergangenen Freitag gefeiert hat.
Zu diesem Zweck hatte die Verkehrswacht Hanau/Gelnhausen einen Rollstuhl-Parcours aufgebaut, auf dem sich Groß und Klein selbst auf zwei Rädern probieren konnten. „Für die Kinder ist das natürlich in erster Linie eine große Gaudi. Aber dahinter steht die Ernsthaftigkeit, den Blick für die alltäglichen Schwierigkeiten zu schärfen, mit denen man zu kämpfen hat, wenn man im Rollstuhl unterwegs ist“, erklärte Egbert Leistner, Geschäftsführer der Verkehrswacht Hanau/Gelnhausen.
Einer, der die Strecke mit links meistert, ist Sebastian Arnold. Er ist Trainer und Spieler der erfolgreichen Rollstuhl-Basketballmannschaft ING Skywheelers. „Das ist für mich das erste Mal, dass ich in eine Kita eingeladen worden bin“, sagte Arnold, der seit 22 Jahren Rollstuhl fährt. „Aber es ist wichtig, den Kindern zu zeigen, dass man trotz Rollstuhl aktiv bleiben kann.“ Mit ihm ein paar Körbe zu werfen, war eine der Attraktionen, die am Freitagnachmittag viele Familien zu dem Familienzentrum in Dörnigheim gelockt hatten. Dabei ging es dem Basketballer nicht nur um den Spaß. „Je früher Kinder in Kontakt mit Menschen mit Behinderung kommen, desto weniger Vorurteile entwickeln sie“, erklärte er, warum er gerne nach Maintal gekommen war.
Hauptpunkt des offiziellen Programms war der Besuch von Bürgermeisterin Monika Böttcher. Sie überreichte den Kindern der vom Behinderten-Werk Main-Kinzig getragenen Kita Zauberwald eine Lego-Rampe. Aus insgesamt tausend bunten Stecksteinen hatten Kinder und Erwachsene im Familienzentrum Eichenheege eine Rampe gebaut, mit der Rollstuhlfahrer Stufen überwinden können. Inspiriert wurde das selbst gebaute Geschenk von Rita Ebel. Die Hanauerin ist als „Lego-Oma“ bekannt und baut seit 2019 Rollstuhlrampen aus Legosteinen. Die in der Eichenheege gebaute Rampe soll zukünftig am Eingang der Kita Zauberwald zum Einsatz kommen, wo täglich Kinder mit und ohne Behinderung aus- und eingehen. „Wir haben den Gummibärchen-Laden in Hanau besucht, um den Kindern die Lego-Rampen zu zeigen. Und ihnen war sofort klar, dass das eine absolut notwendige Erfindung ist, denn sonst könnten Kinder im Rollstuhl ja gar keine Süßigkeiten dort kaufen“, berichtete Geany Schittenhelm, stellvertretende Leiterin der Kita Eichenheege, von dem Bauprojekt.
Dieser erste „Tag der Inklusion“ trug allerdings nur nach außen, was das Kinder- und Familienzentrum seit jeher lebt: alle Kinder aufzunehmen, zu begleiten und zu fördern – ungeachtet einer Behinderung. „Vielfalt leben – von Anfang an“ steht daher auch an der Tür des Zentrums, das neben der Kita ein Familienzentrum mit vielen Angeboten für Eltern bietet und die Servicestelle Kindertagespflege beheimatet. „Wir haben in jeder Gruppe mindestens ein Kind mit besonderem Förderbedarf“, erzählte Geany Schittenhelm aus dem Kitaalltag. Häufig handele es sich dabei um kognitive Beeinträchtigungen. Rollstuhl fahrende Kinder seien derzeit keine dabei – was die große Faszination der vom Sanitätshaus Bußfeld und Schiller geliehenen Rollstühle erklärt. Die Kinder düsten den ganzen Nachmittag über den Hof. Viele Eltern hatten ihre liebe Not, sie davon wieder loszueisen, als sie aufbrechen wollten.
Berührungsängste zwischen Kindern mit und ohne Behinderung gebe es keine, berichtet Geany Schittenhelm. Deutlich zu sehen war das bei dem Tanz, den Kinder beider Kitas – Eichenheege und Zauberwald – gemeinsam einstudiert und aufgeführt haben. „Wir wollen bei den Kindern ansetzen, damit Inklusion zur Normalität wird“, sagte sie. Es seien die Eltern, denen häufig das Bewusstsein für die besonderen Herausforderungen für ein Leben mit einer Behinderung fehle. „Aufgefallen ist uns das besonders, weil zum Beispiel ständig jemand unberechtigt auf dem Behindertenparkplatz parkt. Da sind wir auf die Idee gekommen, einen Tag der Inklusion für Kinder und Eltern ins Leben zu rufen“, erzählte die Pädagogin.
Dass sich Kinder mit Behinderungen oder kognitiven Beeinträchtigungen in vielen Situation anders verhielten, zum Beispiel nicht am Morgenkreis teilnähmen, sei für ihre Spielkameraden völlig normal. „Alle gewinnen, wenn wir barrierefrei leben und arbeiten“, beschrieb Geany Schittenhelm das Konzept der Kita. Begeistert von der Veranstaltung waren nicht nur die Kinder und Eltern, sondern auch Mitglieder des Maintaler Inklusionsbeirats. „Toll ist, dass hier Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung geschaffen wird. Denn Begegnung löst Barrieren im Kopf“, sagte Ruth Meyer, Mitglied des Beirats, der zukünftig regelmäßige Treffen in Form eines Inklusionscafés im Familienzentrum plant.
Von Bettina Merkelbach
