Ein langer Weg zurück: Ex-Top-Läufer Sasha Müller leidet unter den Spätfolgen seiner Corona-Infektion

Der größte Moment seiner Sportkarriere findet sich noch immer im Internet. Ein Video, knapp zwei Minuten lang, aufgenommen 2016 bei den Deutschen U16-Meisterschaften in Bremen, 3000-Meter-Finale. Es zeigt Sasha Müller, wie er förmlich über die Tartanbahn fliegt, sein Strahlen auf den letzten einsamen 200 Metern, weil er weiß: Dieser Sieg ist ein Triumph.
Maintal/Hanau – Bei 8:56:13 bleibt die Uhr stehen. Der bisherige Landesrekord, aufgestellt 1985, ist Geschichte. „Das war mein bestes Rennen“, sagt Sasha Müller.
Sechs Jahre später steht der 21-Jährige in Laufkleidung am Main. Von Rekorden ist der Läufer des SSC Hanau/Rodenbach weit entfernt. Seine letzte Meisterschaft läuft er 2018. Erst plagt ihn eine Wadenverletzung, dann steht das Abitur an. Im Anschluss beginnt Sasha Müller eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann bei einer Sport-Agentur. Die Prioritäten haben sich verschoben, erzählt er. Aufgehört zu laufen hat er trotzdem nie. Doch dann kommt Covid-19. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich mich anstecken könnte. Und schon gar nicht, dass es mich so umhaut“, sagt Müller.
Es sind die Herbstferien 2020, als sich seine Mutter mit dem Coronavirus ansteckt. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen infiziert sich kurz darauf auch sein Vater. Sasha Müller, der bei seinen Eltern im Haus wohnt, hofft bis zuletzt, dass er verschont bleibt. Um sich trotz Quarantäne fit zu halten, läuft er fast täglich ein paar Runden im Garten. Doch plötzlich geht nichts mehr. „Ich bin vielleicht ein, zwei Kilometer gelaufen, als mir die Luft wegblieb. Ich wusste sofort, hier stimmt was nicht“, erinnert sich Müller. Wenig später hat der Hanauer erste grippeähnliche Symptome. Er fühlt sich schlapp, hat Schnupfen. Eine weitere Woche später kommt eine Riech- und Schmeckstörung hinzu. Der Döner schmeckt nach gar nichts, die Zahnpasta nach Ei, acht Monate lang.
Die anderen Symptome bessern sich schnell. Sasha Müller ist das, was Ärzte als milden Verlauf bezeichnen. Als die Quarantäne nach vier Wochen endlich vorbei ist, fährt er zum Training. Ein lockerer Waldlauf mit der Gruppe soll es werden. Zwei Kilometer schafft der 20-Jährige. Dann geht nichts mehr. „Ich habe mich gefühlt wie jemand, der noch nie in seinem Leben Sport gemacht hat“. Allein geht er langsam zurück zum Auto. „Kein schönes Gefühl“, sagt Müller. Am nächsten Tag hat er am ganzen Tag Muskelkater. Körper und Lunge, die jahrelang Höchstleistungen abgeliefert haben, streiken.
Der Absturz trifft den ehemaligen Top-Läufer hart. Im Alter von sechs Jahren absolviert er seinen ersten Lauf, im Alter von zehn Jahren wird er Leistungssportler. Der schlaksige Jugendliche knackt mehrere Rekorde, holt 42 Hessenmeister-Titel, wird in den Bundeskader berufen. 50 bis 60 Kilometer umfasst sein Training damals pro Woche. „Laufen war schon immer ein Teil von mir. Nach Corona habe ich mich gefühlt wie ein Tischtennisspieler, dem man den Arm gebrochen hat.“
Sasha Müller ist kein Einzelfall. Etwa zehn Prozent der Infizierten leiden an den Spätfolgen einer Coronavirus-Erkrankung, dem sogenannten Long-Covid- oder auch Post-Covid-Syndrom. Als gesichert gilt, dass Patienten, die auf der Intensivstation lagen, in den meisten Fällen länger brauchen, um sich zu erholen. Vor allem Ältere, Patienten mit Vorerkrankungen und einem schweren Verlauf entwickeln Studien zufolge eher Folgeschäden. Doch auch bei leichten Verläufen sind Langzeitfolgen möglich. Das beobachtet auch Allgemeinmediziner Thomas Blaschek vom MVZ Maintal. „Wir behandeln einige Patienten, die über Symptome von Long Covid klagen, obwohl sie jung und sportlich sind und nur einen leichten bis milden Verlauf hatten.“
Sportler wie Sasha Müller, den Blaschek seit einigen Jahren als Patient betreut, hätten ein feines Gespür für ihren Körper und die eigene Leistungsfähigkeit. „Die merken natürlich viel eher, wenn plötzlich Einschränkungen da sind und ein paar Prozente fehlen. Otto Normalverbraucher kann das oft weniger so gut einordnen.“ Das Problem: Long Covid lässt sich nicht nachweisen, die Schäden sind so unterschiedlich wie unspezifisch. Es sind nicht nur Probleme mit der Lunge, sagt Thomas Blaschek.
Die Patienten klagen über eine bleierne Müdigkeit, depressive Verstimmungen, andere leiden unter Verdauungsstörungen oder massiven kognitiven Einschränkungen wie Konzentrationsstörungen. Viele Menschen werden dauerhaft krank bleiben, befürchtet der Mediziner. „Alle reden über die Infektionszahlen. Aber die Welle hinter der Welle, hat niemand auf dem Schirm. Dabei werden die Long-Covid-Kranken unser Gesundheitssystem noch extrem belasten.“
Ob die Betroffenen wieder ihr altes Leistungsniveau erreichen können, lässt sich nicht voraussagen. Ein Gefühl, unter dem Sasha Müller kurz nach der Infektion am meisten leidet. „Niemand konnte mir sagen, ob es wieder besser oder sogar schlechter wird.“
Er beschließt, es zu versuchen. Einmal pro Woche geht er zum Training, läuft weniger, langsamer. Heute, 15 Monate nach der Infektion, schafft Sasha Müller zweimal pro Woche fünf bis zehn Kilometer. So viel wie früher, nur in einem anderen Tempo. Außerdem spielt er Tischtennis bei der SG Bruchköbel. Aus Spaß, nicht um Leistung zu bringen. Sein Lungenvolumen werde von Woche zu Woche besser, erzählt er. „Aber es ist nicht auf dem Niveau wie vor Corona. Und ich weiß nicht, ob es das je wieder sein wird.“
Von Kristina Bräutigam
