Prozess um Tankstellenüberfälle: Außergewöhnlicher Ortstermin - Richter schießt mit Revolver

Maintal – Sich ein möglichst genaues Bild von Straftaten zu machen, ist die Kernaufgabe eines jeden Gerichts. Zur Wahrheitsfindung tragen Aussagen von Zeugen, Opfern und Tätern bei, zudem Gutachten von Sachverständigen. Auch die Besichtigung von Tatorten gehört dazu. Und manchmal hilft es auch, die mögliche Tatwaffe genaustens unter die Lupe zu nehmen.
Dann kann es sein, dass sogar der Richter zur Waffe greift.
Freitag, 9 Uhr, Schießanlage der Hanauer Polizeistation: Im Prozess um zwei Tankstellenüberfälle im März 2021 in Maintal findet ein außergewöhnlicher Ortstermin statt. Im Fokus steht die mutmaßliche Tatwaffe, ein Flobert-Revolver Kaliber 6mm. Mit diesem soll der Angeklagte Patrick B. in der Shell-Tankstelle Am Kreuzstein auf einen Mitarbeiter geschossen und ihn am Hals verletzt haben.
Klar ist schon, dass B. die Waffe nicht hätte besitzen dürfen. Denn über eine Waffenbesitzkarte verfügt er nicht, der aus Tschechien stammende Revolver ist auch nur dort frei verkäuflich und darf legal geführt werden, erklärte Dirk Theis, Sachverständiger für Schusswaffen beim Landeskriminalamt (LKA). Früher wurde eine solche Waffe etwa für die Jagd auf Ratten und Ungeziefer benutzt. Wettbewerbe bei Schützenvereinen gibt es damit nicht.
Und selbst in Tschechien hätte die mutmaßliche Tatwaffe nicht in den Verkauf gehen dürfen, schließlich verfügt sie über eine deutlich höhere Geschossenergie als erlaubt. In Tschechien sind Waffen bis 7,5 Joule frei verkäuflich, Messungen des LKA haben bei der sichergestellten möglichen Tatwaffe im Durchschnitt über 13 Joule gemessen – beinahe eine Verdopplung der erlaubten Schusskraft.
Wie viel Kraft in der Waffe steckt, wird zunächst von einem LKA-Beamten demonstriert. Aus zehn Metern Entfernung durchschlägt das Projektil mühelos eine Blechdose, auch eine Porzellantasse muss dran glauben. Aus einem Meter Entfernung – ungefähr der Abstand zwischen Täter und Kassierer beim Tankstellenüberfall – kann das Projektil immerhin eine Wand der Dose durchschlagen. „Das Geschoss braucht eine gewisse Strecke, um sich zu stabilisieren“, erläutert Theis. Nach dem Motto „probieren geht über studieren“ schreitet dann auch Dr. Mirko Schulte, Vizepräsident des Landgerichts, zum Schießstand und schießt mehrfach mit der Waffe in den dafür vorgesehenen Kugelfang. Auch Staatsanwältin Ines Roser und Verteidiger Christian Heidrich nutzen die Gelegenheit, die Waffe auszuprobieren.
Weitere Erkenntnisse zur Durchschlagskraft der Waffe gibt es, wenn die Untersuchungen des LKA abgeschlossen sind. Im Fachlabor wird mit der Waffe auf eine Gelatine-Masse geschossen, die der Beschaffenheit des menschlichen Körpers ähnelt. Dann kann bewertet werden, ob die Schüsse auf den Tankstellenmitarbeiter potenziell hätten tödlich sein können. Schließlich wird dem Angeklagten neben den Überfällen, die er bereits gestanden hat, auch versuchter Mord vorgeworfen.
Zurück im Gerichtssaal sagt dann der Kassierer aus, auf den B. mutmaßlich geschossen hat. Ebenso wie das andere Opfer leidet der junge Mann auch über ein Jahr später noch stark unter der Tat. „Ich war vorher ein selbstbewusster Junge, hatte keine Angst“, sagt er im Zeugenstuhl, in dem er sich sichtlich unwohl fühlt. Nun sei er ängstlich geworden, fühle sich verfolgt. Er leide unter Schlafstörungen, Albträumen und Herzrasen. Lange Zeit war er krankgeschrieben, in der Tankstelle hat er nie wieder gearbeitet.
Dass seine Erinnerungen angesichts der schlimmen Erfahrung des Überfalls von den Erkenntnissen der Videoüberwachung aus der Tankstelle abweichen, ist für den Prozess nicht weiter entscheidend. Die Erkenntnisse zur mutmaßlichen Tatwaffe dagegen schon.
Der Prozess wird am 5. Mai fortgesetzt.
Von Michael Bellack