Mit Ruhe statt mit Lasso: Rinderhirten vermitteln in Nidderau ihr Handwerk

Den Albtraum eines jeden Bauern – von einer Weide entlaufene Rinder – durchlebten im vergangenen Jahr Katja und Christoph Jost aus Nidderau. Beim Einfangen der sehr weitflächig verstreuten und aufgeregten Rinder kamen den Tierhaltern die Rinderhirten Tanja und Marco Hubricht aus Hagen zu Hilfe. Jetzt kehrte das Duo zurück, um sieben Interessierten ein Basiswissen für Rinderhirten zu vermitteln.
Nidderau – Ein sehr seltener Anblick bot sich Spaziergängern und Freizeitsportlern am Sonntag auf einer Weide zwischen Eichen und Höchst. Sie konnten in freier Natur zwei professionellen und sieben angehenden Rinderhirten bei der Arbeit zusehen. Auf der Weide stehen derzeit 13 der 30 Charolais-Rinder von Christoph und Katja Jost. Im vergangenen Jahr war eine Herde von ihrer Weide in der Gemarkung Eichen ausgebrochen und in der Region unterwegs.
Die weitflächig im Wald und Gebiet zwischen Kloster Engelthal, Nidderau-Naumburg und Chausseehaus verstreuten Tiere waren sehr aufgeregt, wie Christoph Jost berichtet. „Bis Tierarzt Dr. Thomas Haupt aus Gründau kam, um die Tiere für den Heimtransport zu betäuben, waren die zuvor mühsam aufgefundenen Rinder wieder verschwunden.“ Durch Kontakte hörte der Bauer von den Rinderhirten in Hagen. Tanja und Marco Hubricht und ihr Team haben sich darauf spezialisiert, „Landwirten beim Herdenmanagement behilflich zu sein“. Die Rinderhirten kamen nach Nidderau und die Tiere konnten nach und nach eingefangen werden.
Familie Jost aus Eichen begeistert
Von der Arbeit der Rinderhirten begeistert waren Katja Jost, ihre Tochter Naja (12) und Familie Haupt. Sie buchten bei den Rinderhirten einen Einsteigerlehrgang „Basiswissen für Rinderhirten in Theorie und Praxis“. Und so versammelten sich am Sonntag neben den 13 Charolais-Rindern auf der Weide neun Reiter und ihre Pferde.
Alle waren hoch konzentriert. „Unsere Hauptaufgabe besteht heute darin, die Pferde und die Reiter an die Rinderarbeit zu gewöhnen“, informierte Marco Hubricht. Schmunzelnd fügte er hinzu: „Das ist für die Reiter schwieriger als für die Pferde.“ Zuvor hatten die Lehrgangsteilnehmer beispielsweise gelernt, wie ein Rind sieht. Da ihre Augen seitlich am Kopf liegen, haben sie zwar einen Sichtbereich von 330 Grad, aber ihr 3-D-Sehvermögen ist dadurch stark eingeschränkt.
Im Vergleich zum Menschen können Kühe nur 30 Prozent sehen. Sie erkennen unscharfe Konturen und Kontraste nur schwer. Da ihr Bildauflösungsvermögen ebenfalls geringer ist als das von Menschen, sollten hektische Bewegungen im Umgang mit Rindern vermieden werden. Rinder haben Rezeptoren für die Farben Blau und Grün, sehen aber schlecht im Rot-Bereich.
Wissen über Kühe ist Basis für Arbeit
Dieses Wissen fließt in die praktische Arbeit mit ein. Nach und nach gewöhnen die Reiter die Pferde an die Rinder und umgekehrt. Dann wurden erste Aufgaben geritten. Langsam umkreisten die Reiter die Herde, trieben sie in Schulterformation von A nach B, separierten Tiere und ritten einzeln durch die Herde.

„Das sind alles wichtige Aufgaben, um Tiere zu treiben, zu selektieren und einzufangen, damit der Tierarzt sie untersuchen, entlaufene Rinder aus der Distanz mittels Blasrohr betäuben oder Ohrenmarken setzen kann.“ Das Arbeiten mit den Rindern ging ruhig und entspannt vonstatten. „Ruhe und Respekt vor dem Rind und vor unseren Pferden sind wichtige Bestandteile unserer Arbeiten“, betonte Marco Hubricht.
„Ranchworken ist im Gegensatz zum Cutten ganz ruhiges Arbeiten. Eine Herde, die rennt, hat man nicht unter Kontrolle.“ Deshalb fehlten auf der Nidderauer Weide lautes Johlen, Pfeifen, wildes Gestikulieren, Lasso schwingen und aufgeregtes Herum-galoppieren. „Hier wird tiergerecht mit den Rindern und Pferden gearbeitet.“ Je nach Sattel können die Reiter bis zu 300 Kilogramm schwere Tiere am Rope mit sich führen.
Workshops in ganz Mitteleuropa
Marco Hubricht hat die Arbeit der Rinderhirten 2012/13 für sich entdeckt, war zuvor Dressur- und Westernreiter. Inzwischen bieten er und seine Frau Lehrgänge an, haben einen Ausbildungsleitfaden und Ausbildungskatalog für Rinderhirten geschrieben, arbeiten in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit Landwirten, Rinderzüchtern, Naturschutz-Verbänden und Veterinären zusammen.
„Mit der Arbeitsreiterei unterstützen wir als Dienstleister die genannten Gruppen langfristig beim Rindermanagement auf der Fläche gehaltener Herden“, erklärte Hubricht. Im größtenteils dicht besiedelten Europa sei das Wissen vom Umgang mit „frei lebenden Rindern“ fast verloren gegangen, informierte der Rinderhirte. Die unterschiedlichen Rinderrassen erforderten unterschiedliche Arbeitsweisen, ebenso ein fliehendes oder angreifendes Rind. (Von Christine Fauerbach)