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Nidderau: Chronik Windeckens schließt eine Lücke in der Regionalliteratur

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Der Marktplatz in Windecken erlebte durch die Jahrhunderte Handel und Wandel, ist aber auch ein Ort der Identität der Windecker Bürger. In der aktuellen Diskussion um Umbau und Brunnen könnte ein Blick in die Chronik „Geschichte von Windecken“ hilfreich sein. Daraus stammt auch diese Aufnahme, die um 1900 entstand.
Der Marktplatz in Windecken erlebte durch die Jahrhunderte Handel und Wandel, ist aber auch ein Ort der Identität der Windecker Bürger. In der aktuellen Diskussion um Umbau und Brunnen könnte ein Blick in die Chronik „Geschichte von Windecken“ hilfreich sein. Daraus stammt auch diese Aufnahme, die um 1900 entstand. © Sammlung Erhard Bus

Auch wenn sich Erhard Bus’ jüngstes Werk „Die Geschichte Windeckens“ stellenweise spannend liest wie ein Kriminalroman – mit dieser Literaturgattung hat das Buch wenig gemein. Denn ein Krimi, so ist es nun einmal, will von Anfang bis zum Ende gelesen werden.

Nidderau – Nicht so die nun vorliegende Ortgeschichte des Nidderauer Stadtteils: Zwar folgt das opulente Werk dem Lauf der Zeit, ist auf historische Chronologie angelegt; es ist dem Autorgespann Bus / Dannoritzer jedoch das Kunststück gelungen, durch geschickten Aufbau der einzelnen Kapitel dem interessierten Leser den Einstieg an fast jeder Stelle und zu jeder Zeitepoche zu ermöglichen.

Mit seiner Fülle an Material, sorgfältig durch Quellen und Verweise belegt, schlägt der Text den Bogen vom Frühmittelalter bis zur Gebietsreform der 1970er Jahre und gewinnt nicht zuletzt durch die sorgfältig ausgewählte und in betrachterfreundlicher Größe reproduzierte Bebilderung.

Einstieg an fast jeder Stelle möglich

Bis jedoch Windeckens beileibe nicht gradlinig verlaufene Geschichte, vom Verein der Heimatfreunde seit 2018 nachdrücklich befördert, nun zwischen Buchdeckeln vorlag, war es ein steiniger Weg. Die vom damaligen Nidderauer Bürgermeister Gerhard Schultheiß in Auftrag gegebene und 2006 vorgelegte Fortschreibung des städtischen Kulturkonzepts aus den 1980ern formuliert eingangs, kommunale Kulturpolitik müsse nicht nur als Instrument genutzt werden, um gesellschaftliche Prozesse zu lenken, sondern habe „ . . . auch die Identifikation aller Bürger mit Nidderau als ihrer Heimat zu fördern“.

Als Mittel dazu begreift das Kulturkonzept unter anderem die Kenntnis der eigenen Geschichte, festgehalten und nachzuvollziehen in einer Ortschronik der jungen Stadt Nidderau, jedoch auch in Chroniken der einzelnen Stadtteile. 2007 lagen die für Eichen, Heldenbergen und Ostheim vor. Es fehlten entsprechende Werke für Windecken und Erbstadt. Eine vollständige historische Ortschronik in gedruckter Form sei jedoch „ein Stück Bringschuld an die kommenden Generationen“, so das Konzept.

Auch für nichtwissenschaftliches Publikum

Mit dem nun für Windecken vorliegenden Geschichtswerk wird zugleich auch dessen Anspruch an eine solche Publikation erfüllt. Demnach müsse dafür solide wissenschaftliche Arbeit abgeliefert werden, die über den Tag und Anlass hinaus Gültigkeit habe und gesicherte Erkenntnis in Wort und Bild vermittele. Man muss hinzufügen: Es müsse sich auch an ein breites, nichtwissenschaftliches Publikum richten.

Das ist mit dem rund zwei Kilo schweren Werk durchweg erfüllt. Dass es im Vergleich zu den übrigen Chroniken in Nidderau und anderen Orten der Nachbarschaft etwas opulenter ausgefallen ist, würden nur böswillige Zeitgenossen Windecker Eitelkeit zuschreiben. Tatsächlich hat dieser Umstand handfeste historische Gründe.

Der Heimatforscher und Hobbyhistoriker Rolf Homann, der in den 1980er und 1990er Jahren im HANAUER vielfach Beiträge zu historischen Windecker Themen veröffentlicht hat, sprach gerne vom „Grafenstädtchen“, wenn es um Windecken ging. Diese romantisierende Verniedlichung unterschlägt jedoch schon im Wort wichtige historische Fakten: Nämlich, dass Windecken lange Zeit Residenzort eines aufstrebenden und in der Wetterau einflussreichen Grafengeschlechts war, des Hauses Hanau-Münzenberg. Damit war Windecken auch Sitz der gräflichen Verwaltung mitsamt aller administrativen Instanzen, die den rechtlichen und sozialen Alltag bestimmten. Darüber hinaus war der Residenzort zugleich wirtschaftliches Zentrum des gräflichen Herrschaftsgebietes, ja, der Region.

Windecken erhält Stadtrechte noch vor Hanau

Schon zeitig waren die Hanauer Grafen bemüht, durch königliches Privileg für einige ihrer Ortschaften das Stadtrecht zu erwerben, mit dem unter anderem eine gewisse Autonomie der Bürger, der Bau einer Stadtmauer oder die Abhaltung von Märkten verbunden war. Für Windecken war es 1288 so weit. Nach Steinau (1290), Babenhausen (1295) kam Hanau erst 1303 in den Genuss der Privilegien, die denen der Reichsstadt Frankfurt glichen.

Das Alte Rathaus ziert „Die Geschichte Windeckens“.
Das Alte Rathaus am Windecker Marktplatz ziert „Die Geschichte Windeckens“. © Privat

Zurecht gibt Bus im 1. Teil der „Geschichte“ der Entwicklung Windeckens und der Region etwas mehr Raum, ist es doch diese Epoche, in der sich in den Städten und Dörfern eine gewisse „Identität“ herausbildet. Es fallen aber auch Brüche in diese Phase der Stadtgeschichte: Dass sich die Grafen aus strategisch-politischen Gründen entschließen, um 1450 die Residenz nach Hanau zu verlegen, dürfte die Bedeutung Windeckens rasch verringert haben.

„Verdorfung“ nach Dreißigjährigem Krieg

200 Jahre später war es der Dreißigjährige Krieg, welcher die Region und auch Windecken schwer belastete. Auch die Funktion als Amtsort, als Sitz des gräflichen Amtmanns, hielt den Bedeutungsverlust der einstigen Residenz – Bus spricht etwas respektlos aber zutreffend von „Verdorfung“ – nicht auf. Dieses Schicksal teilt Windecken mit zahlreichen anderen Orten der Region, in deren Entwicklung der „Zeitenbruch“ des Dreißigjährigen Krieges und die Umwälzungen der napoleonischen Epoche lange nachwirkten. Hierzu kann Bus, der dazu einschlägig geforscht und publiziert hat, Erhellendes beitragen und dabei aus reichlich vorhandenen, vielfach neu erschlossenen Quellen schöpfen.

Dabei geht der Band weit über die zu erwartenden historischen Grundlagen hinaus: Wie etwa sprachen die Windecker, wie stand es um die Wirtshauskultur, um Landwirtschaft, das Handwerk oder die religiösen Verhältnisse – Windecken hatte immerhin eine bedeutende Judengemeinde. Themen sind auch Gesundheit und soziale Fürsorge, Schulen und Bildung, mithin der Alltag der Menschen. Ein Glossarium erschließt Begriffe von Altarist bis Zivilstandsregister und eine Bevölkerungs- und Konfessionsstatistik eröffnet interessante Einblicke.

Industrialisierung hält Einzug

Der Zeit ab 1866, mithin der fortschreitenden Industrialisierung, widmet sich die Co-Autorin des Bandes, Marlen Dannoritzer. Ihr obliegt die Beschreibung der jüngeren und jüngsten Vergangenheit Windeckens, also des Übergangs vom Dorf zur „Wohnsitzgmeinde“. Dies bildete durch Verkehrsmittel wie die Friedberg–Hanauer Eisenbahn und neue Erwerbsmöglichkeiten etwa in den Hanauer Industriebetrieben im 19. Jahrhundert den ganz neuen Soziotypus des „Arbeiterbauern“ heraus, der neben der Industriearbeit nur noch im Nebenerwerb Landwirtschaft betrieb. Der universitäre Forschungsschwerpunkt der Autorin war die Zeit des Ersten Weltkrieges; nun führt sie in der Chronik Windecken in die Gebietsreform der 1970er Jahre und damit an den Beginn der Nidderauer Gegenwart, was sich naturgemäß in einer etwas gedrängteren Form niederschlägt.

Fazit nach 680 Buchseiten: Windecken ist bis heute von seiner Geschichte geprägt, was sich nicht nur im Ortsbild rund um den Marktplatz niederschlägt. Die imposante Fassade des Rathauses aus dem frühen 16. Jahrhundert auf dem Umschlag der Chronik spiegelt das Selbstbewusstsein der alten Windecker wider und setzt zugleich ein Zeichen gegen Geschichtsvergessenheit, die leider auch in der aktuellen Diskussion um die „Möblierung“ des Marktplatzes nach dem Umbau durchscheint. Nicht Beliebigkeit von anderswo, sondern etwas Eigenes zu vertreten, hat die Stadt und ihre Menschen durch die Jahrhunderte geprägt.

Zeichen gegen Geschichtsvergessenheit

Auch wenn es dunkle Zeiten gab, wie ein Tagebucheintrag des Niederländischen Pfarrers von Hanau, Hebelius Potter, aus dem Jahr 1811 zeigt: „Einen schauderhafteren Platz als dies alte Windecken habe ich unter den Orten der Welt noch nicht gesehen. Alles hat da ein so verfallenes, elendes, düsteres und schwermütiges Aussehen, daß das Herz bei dem ersten Hinkommen gleichsam einen Stich bekommt. Eine dunkle Spelunke von einer reformierten und eine ebensolche lutherische Kirche sind die bedeutendsten Gebäude! Von dem Schloß über der Stadt, auf der Spitze eines Berges, in dem früher die Grafen von Hanau ihren Wohnsitz hatten, ist nur noch eine kleine Ruine übrig geblieben.“

Diese Zeiten sind längst überwunden. Und die seit Bürgermeister Salzmanns Zeiten diskutierte und jetzt endlich vorliegende Chronik liefert dazu nun alles, was vor und nach Potters Verdikt Windecken ausmacht und ausgemacht hat. Dieses Buch erweitert zugleich den Kanon hanauischer Geschichts(be)-schreibung und gehört deshalb sowohl in jeden Nidderauer Bücherschrank, nicht nur in Windecken, sondern auch in jede gut sortierte Bibliothek Hanauer Regionalia. (Von Werner Kurz)

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