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Nidderau: Forschung von Monica Kingreen zur Deportation von Juden in Buchform

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An das jüdische Viertel und die ehemalige Synagoge in Windecken erinnern heute der Straßenname und eine Gedenktafel. Hier gab es eine der ältesten Gemeinden im heutigen Hessen. Archiv
An das jüdische Viertel und die ehemalige Synagoge in Windecken erinnern heute der Straßenname und eine Gedenktafel. Hier gab es eine der ältesten Gemeinden im heutigen Hessen. © Archiv: Thomas Seifert

Von 17 000 Menschen, die in den Jahren 1940 bis 1945 aus dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt und ermordet wurden, überlebten 950. Aus dem Nachlass der Pädagogin, Forscherin und Publizistin Monica Kingreen, die viele Jahre in Windecken lebte, ist jetzt eine Gesamtdarstellung über das Schicksal der hessischen Juden erschienen.

Nidderau – Herausgegeben, bearbeitet und fertiggestellt hat die Publikation Dr. Volker Eichler. Der ehemalige Leiter des Hessischen Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden stellte das Buch am Freitagabend im evangelischen Gemeindehaus Windecken öffentlich vor.

Die Deportationen geschahen vor aller Augen. Auch in Windecken und Ostheim – die dortigen Juden gehörten zur Israelitischen Gemeinde Windecken – sowie in Heldenbergen. Nachbarn, Freunde und Mitschüler mussten ihre Häuser und Heimat verlassen. Ganze Familien, Alte, Kranke, Jugendliche, Kinder und Säuglinge wurden deportiert.

Mitnehmen durften sie einen Handkoffer, einen Rucksack, eine Decke, einen Brotbeutel mit Proviant für drei Tage und 50 Mark für die „Reisekosten“. Keine Wertsachen. Auch von ihrem „Reisegepäck“ wurde ihnen das meiste noch weggenommen.

Die Juden aus Windecken wurden teils zu Fuß, teils auf Lkw-Ladeflächen nach Hanau gebracht, die aus Heldenbergen nach Friedberg. Sammellager befanden sich unter anderem im Keller der Frankfurter Großmarkthalle und in der Friedberger Augustinerschule.

Von dort wurden die Menschen weiter mit Zügen in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert und ermordet. Ihr zurückgelassener Besitz wurde „verwertet“.

Das Buchcover der posthum fertiggestellten Dokumentation von Monica Kingreen.
Das Buchcover der posthum fertiggestellten Dokumentation von Monica Kingreen „Die Deportation der Juden aus Hessen 1940 bis 1945“. © Christine Fauerbach

Über diese Verbrechen, zum Schicksal der jüdischen Mitbürger in Deutschland und zur jüdischen Geschichte in Hessen, gibt es inzwischen zahlreiche Publikationen. Was bisher fehlte, war eine Gesamtdarstellung zum heutigen Land Hessen, wo besonders viele Juden lebten. Diese Lücke schließt die Dokumentation „Die Deportation der Juden aus Hessen 1940 bis 1945“ von Monica Kingreen (1952 bis 2017).

Das von der Forscherin hinterlassene Manuskript wurde von Dr. Volker Eichler im Auftrag der 1963 in Wiesbaden gegründeten „Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen“, deren Vorstandsmitglied Eichler ist, bearbeitet und in Teilen ergänzt. „Meine Hauptarbeit bestand in der Gliederung und Konsolidierung des Textes in drei Haupt- und 50 Unterabschnitte. Es bleibt aber das Buch von Monica Kingreen“, betonte Eichler bei der Vorstellung in Windecken.

Dr. Volker Eichler, Bearbeiter und Herausgeber als Vorstandsmitglied der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen.
Dr. Volker Eichler, Bearbeiter und Herausgeber als Vorstandsmitglied der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen. © Christine Fauerbach

Das Buch bilde eine wichtige Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit der jüdischen Vergangenheit Hessens und enthalte grundlegende Informationen. Die zweite öffentliche Vorstellung der Dokumentation nach Friedberg erfolgte auf Initiative von Historiker Erhard Bus. Die 65 Besucher begrüßte im Namen der Stadt Magistratsmitglied Dr. Georg Hollerbach (Grüne). „Wir hatten bereits nach der Stadterhebung 1288 in Windecken eine jüdische Gemeinde. In der östlichen Ecke des Ortes befand sich das Ghetto, das einer ‘Stadt in der Stadt’ entsprach. In diesem autarken Gebiet lebten dicht an dicht rund 900 Einwohner“, erinnerte Hollerbach.

Die gedrängte Bauweise sei für den ganzen Ort typisch gewesen, da in Windecken viele Handwerker lebten, erläuterte Bus. Die Gebäude im jüdischen Ghetto gehörten der Stadt, die diese an die Bewohner vermietete. „Die Windecker Synagoge war eine der ältesten in Hessen.“

Historiker Erhard Bus, Initiator der Buchvorstellung in Nidderau.
Historiker Erhard Bus, Initiator der Buchvorstellung in Nidderau. © Christine Fauerbach

Die umfangreiche Dokumentation von Monica Kingreen richtet sich an eine breite Leserschicht. „Das Buch ist voller Empathie für die Verfolgten, Gedemütigten und Ermordeten geschrieben.“ Der erste Hauptabschnitt ist den 300 psychisch Kranken gewidmet, die nach Hadamar deportiert wurden, der zweite Hauptabschnitt den 15 500 Menschen, die von Frankfurt, Kassel und Darmstadt aus von Oktober 1941 bis September 1942 deportiert wurden. Der dritte Hauptabschnitt gilt den jüdischen „Mischlingen“, die das gleiche Schicksal zwischen 1943 und 1945 ereilte.

Eichler betonte, dass es das besondere Anliegen Kingreens gewesen sei, dass die Menschen, denen man all dies angetan hat, nicht im Dunkeln bleiben, sondern wieder ins Licht treten und Gestalt annehmen. „Mit ihrer Dokumentation ist es der Autorin gelungen, den Verfolgten, Gedemütigten und Ermordeten gewissermaßen ihre Stimme wiederzugeben.“

Ergänzt werden die Hintergrundinformationen zur jüdischen Gemeinde Windecken wie in allen anderen hessischen Gemeinden in den Grenzen vor 1945 und ihrer jüdischen Bürger durch zahlreiche Abbildungen, welche die Deportierten oft in ihrem häuslichen Umfeld zeigen. Hartmut und Christiane Heinemann aus Wiesbaden lasen ausgewählte Texte wie Abschiedsbriefe oder Postkarten und Telegramme aus den Lagern vor. „Ich habe Hunger“, diese drei Worte umschreiben die Lage in den Lagern, notierte Ferdinand Levi, der das Konzentrationslager Theresienstadt überlebte.

Zum Buch

Das in der Schriftenreihe der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen erschienene, 490 Seiten umfassende Buch (mit 288 Abbildungen, 15 Tabellen und zwei Karten) schildert erstmals im Zusammenhang die Deportation der Juden im gesamten Gebiet des heutigen Landes Hessen. Es ist zu einem Verkaufspreis von € 28 Euro über den Buchhandel oder direkt bei der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen (Mosbacher Straße 55, 65187 Wiesbaden) erhältlich. (Von Christine Fauerbach)

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