Nidderau: Kulturbeiratsvorsitzender Jürgen Reuling wird 80 Jahre alt

Wenn Jürgen Reuling an diesem 4. Februar 2023, zu seinem 80. Geburtstag, auf sein erfülltes Leben blickt, dann fallen ihm viele prägende Momente ein. Die Sonnenaufgänge auf dem Montmartre beispielsweise, am Fuße der Sacré-Cœur mit Blick auf das erwachende Paris. Oder die Abende in der Metropolitan Opera New York, wo er gemeinsam mit seiner Frau in den vergangenen 40 Jahren die Größen der Opernwelt erleben durfte.
Nidderau – Oder auch jener Tag kurz nach der Wende, als er vor einem Hanauer Schaufenster eine kleine Gruppe Ostdeutscher traf und ihnen spontan eine Führung durch seine Heimatstadt anbot. Die Freundschaften halten bis heute.
Jürgen Reuling ist ein Menschenfreund. Auch wenn er im Gespräch diesen Ausdruck nicht selbst verwendet. Dabei resultiert diese innere Haltung, offen durch die Welt und auf andere zuzugehen, nicht etwa aus einer von Geburt an besonders privilegierten Position, wie man bei den eingangs geschilderten Erinnerungen denken könnte. Denn besonders begütert war die Familie nicht.
Es sind vielmehr die vielen positiven Erfahrungen im Laufe seines wechselvollen Berufslebens, an dessen Anfang Reuling selbst Unterstützung erfuhr, und in dem er mit Menschen in vielen Ländern und aus verschiedensten Kulturkreisen in Verbindung trat. Und nicht zuletzt ist es seine eigene vom Zweiten Weltkrieg geprägte Familiengeschichte mit dem Verlust von Angehörigen auf französischem und russischem Boden, die es ihm zum persönlichen Anliegen machte, sich für Völkerverständigung einzusetzen. Allem voran als Vorstandsmitglied und Vorsitzender der beiden Hanauer Vereine „Freundschaft mit Jaroslawl“ in Russland und dem „Partnerschaftskomitee Großauheim“, das die Städtepartnerschaft mit dem französischen Conflans Ste Honorine pflegt. Für diese und weitere ehrenamtliche Engagements wurden Reuling zahlreiche Ehrungen zuteil.
Um Hanauer Freundschaftsvereine verdient gemacht
Die Anerkennung reicht so weit, dass Reuling zu offiziellen Anlässen sogar als Dolmetscher und Vertreter der Stadt Hanau auftrat. So reiste er im Auftrag von Oberbürgermeister Claus Kaminsky zum Gedenken an 60 Jahre Kriegsende ins belgische Chimay oder hielt anlässlich der Terroranschläge in Paris im Jahr 2015 eine Ansprache auf dem Altstädter Marktplatz.
Doch auch in Nidderau, wo im Haus an der Saalburgstraße noch heute regelmäßig Sohn und Tochter mit den Enkeln zu Familienfeiern zusammenkommen, trägt er Verantwortung. Als Kulturbeiratsvorsitzender ist er nicht nur für die Organisation eines hochwertigen Programms mit den Kommunen Altenstadt und Schöneck zuständig, sondern auch als Redner zu den Jahresempfängen der Stadt, in der städtischen Preisjury sowie für die Partnerschaft mit Gehren-Thüringen aktiv. „Dabei war ich als junger Mann eher zurückhaltend“, sagt Reuling lächelnd. „Die Scheu, vor Menschen zu sprechen, habe ich durch meine Erfahrungen in Frankreich abgelegt.“
Als Migrant in Paris
Es war das Jahr 1966, als Reuling für vier Jahre beruflich nach Paris ging. 1963 hatte er sein Abitur an der Hohen Landesschule absolviert. Seine Frau Gerlinde, mit der er seit 56 Jahren verheiratet ist, hatte er während der kaufmännischen Lehre bei Heraeus kennengelernt.
„In Paris lernte ich, was es heißt, Migrant zu sein“, sagt Reuling über seine „französische Phase“. Denn bei aller Faszination für die sich bietenden Freiheiten der Weltmetropole, musste er sich die Sprache und den Lebensunterhalt zunächst hart erarbeiten.
Gemeinsam mit anderen Ausländern besuchte er die Abendschule und erfuhr Geduld und Unterstützung von einem Kunden aus Marseille, den er von dienstlichen Telefonaten her kannte. Und das zu einer Zeit, als es mit der deutsch-französischen Aussöhnung noch nicht so weit her war, wie der „Frankreich-Fan“ zu bedenken gibt.
„Mit den paar Francs an Kindergeld, die wir nach der Geburt unseres Sohnes erhielten, gingen wir ins Restaurant“, beschreibt Reuling die trotz allem überwiegende Leichtigkeit dieser Jahre. Doch infolge der Mai-Revolution 1968, die das gesamte Land für Monate lähmte (Reuling fuhr in dieser Zeit mehrfach nach Deutschland, um knappe Güter zu besorgen), entschied sich die junge Familie, wieder nach Hanau zurückzukehren.
„Deutsche neigen zu Extremen“
Es folgten Anstellungen bei Dunlop, in Hannover, im Außendienst beim Automobilzulieferer Teves in Frankfurt – doch die in Paris lieb gewonnene Weltoffenheit vermisste Reuling sehr. „Die Deutschen neigen zu Extremen“, sagt er, „himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt. Es wird zu viel gejammert und zu wenig nach Lösungen gesucht.“
Immerhin: Beruflich hatte er damals in Vertrieb und Marketing mittlerweile eine Position erreicht, die ihn in Dutzende Länder der Welt führte, wohin ihn seine Frau Gerlinde teilweise begleitete, bis er 2003 als Vertriebsdirektor International und Einzelprokurist der Wolf Garten GmbH in Altersteilzeit ging.
Von Ruhestand jedoch keine Spur. Denn nun rückten die ehrenamtlichen und kulturellen Aktivitäten Reulings in den Vordergrund. „Kultur ist ja eigentlich alles im täglichen Leben“, sagt der Jubilar, „Umgangsformen, Respekt vor dem anderen, auch mit anderen Meinungen umzugehen und Toleranz.“ Kompromissfähigkeit sei wichtig, sagt er an anderer Stelle im Gespräch, ob in Ehe oder Beruf. Und: „Ich war immer eher auf Harmonie denn auf harte Auseinandersetzungen ausgerichtet.“
Ukraine-Krieg ist harte Probe
Doch diese Haltung wird durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine aufs Äußerste erprobt. „Die offiziellen Beziehungen zwischen Hanau und Jaroslawl sind auf Eis gelegt“, schrieb Reuling im Oktober 2022 an die Mitglieder des Hanauer Vereins „Freundschaft mit Jaroslawl“. „Das gilt aber ausdrücklich nicht für unsere Freundinnen und Freunde, die sich von dem Krieg distanzieren und genauso unter den heutigen Umständen leiden wie wir.“
Reuling selbst, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg in Stalingrad vermisst war, hat engste Bindungen nach Russland. Auf einer Familienreise lernte sein Sohn in Jaroslawl seine zweite Frau und deren Tochter kennen. „Unsere Aufgabe muss es sein, dass wir eine Zerstörung dieser Verbindungen nicht zulassen“, so Reulings Appell. „Wir müssen akzeptable Wege finden, dies zu bewerkstelligen, ohne dass die jeweils andere Seite sich falsch verstanden fühlt.“
So niederschmetternd die aktuelle Lage sein mag: Auch mit 80 Jahren wird sich Jürgen Reuling in seinem Engagement für Völkerverständigung und kulturellen Austausch sicher nicht entmutigen lassen. (Von Jan-Otto Weber)