Der Büdesheimer Hans-Hayo Hayessen ist Sohn eines NS-Widerstandskämpfers

Hans-Hayo Hayessen, der heute in Büdesheim lebt, war gerade zwei Jahre alt, als seine Welt zusammenbrach. Am 4. August 1944 verhaftet die Polizei seine Großeltern, seine Mutter und seine Tante. Sein Großvater Ernst wird nach Buchenwald, die Frauen in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Er selbst und sein neun Monate alter Bruder Volker werden einen Tag später ins Kinderheim Borntal in Bad Sachsa verschleppt.
Schöneck - Sippenhaft nannten die Nazis diese Rache an Familienangehörigen. In diesem Fall rächten sie sich wegen Major im Generalstab Egbert Hayessen, der zum inneren Zirkel des Widerstands um Oberst Claus Graf Schenck von Stauffenberg gehörte und wohl von Beginn an in die „Operation Walküre“ involviert war.

Das kurze, aber ereignisreiche Leben von Egbert Hayessen – er war 1944 gerade 30 Jahre alt – und seine Rolle bei der Vorbereitung des Attentats hat der Pädagoge und Politologe Dr. Dieter Vaupel aus Nordhessen in einem reich bebilderten Buch nachgezeichnet.
Die Eltern Emma und Ernst Hayessen, seit 1923 Pächter der Staatsdomäne Mittelhof in Nordhessen, legen großen Wert auf eine gute Ausbildung ihrer vier Kinder. Egbert, der Zweitälteste, besucht die Klosterschule in Roßleben, ein Elite-Internat. Nach dem Abitur 1933 absolviert Egbert Hayessen eine militärische Ausbildung bei der Artillerie in Schwerin. Bei Kriegsbeginn gehört er zur Panzeraufklärung, ist in Polen, dann in Calais stationiert und nimmt ab 1940 am Afrikafeldzug teil. Dort kommt er vermutlich mit von Stauffenberg in Kontakt.
Laut Vaupel war Hayessen wegen seiner Güte, Menschlichkeit, Liebenswürdigkeit und seiner besonderen charakterlichen Qualitäten sehr beliebt. 1943 schließlich wurde Egbert Hayessen zum Stab des Allgemeinen Heeresamtes nach Berlin versetzt und hatte sein Büro im Bendlerblock. „Ein Bild und ein Türschild erinnern an meinen Vater“, sagt Hans-Hayo Hayessen, der im Rahmen einer Gedenkveranstaltung zum 20. Juli eine Führung durch den Gebäudekomplex erlebte. Die feierliche Kranzniederlegung dort geht ihm bis heute emotional nahe. „Mir liefen die Tränen. Die ganze Situation, die Musik, haben mich innerlich zerrissen.“
Liebevoller Vater und humorvoller Mensch
Sein Vater Egbert heiratet 1940 mitten im Krieg seine große Liebe Margarete Cruschmann, Tochter eines Rostocker Medizinprofessors. Die Eheleute treffen sich, wenn Egbert auf Heimaturlaub ist. Von der Geburt seines Sohnes im Juni 1942 erfährt er per Feldpost auf einem Panzer in Afrika. „Mein Vater muss so außer sich vor Freude gewesen sein, dass alle dachten, er habe einen Sonnenstich“, sagt Hans-Hayo Hayessen.
Um den Bomben in Berlin und Rostock zu entgehen, lebt Margarete Hayessen inzwischen bei den Schwiegereltern auf der Staatsdomäne Mittelhof. Im November 1943 wird Sohn Volker geboren. Egbert Hayessen kommt nun häufiger aus Berlin nach Hause. Er wird als liebevoller Vater, als geradliniger und humorvoller Mensch beschrieben.
Heutiger Büdesheimer gilt als „Verräterkind“
Im Juni 1944 sollte er das letzte Mal Frau und Kinder umarmen. Das Attentat auf Hitler am 20. Juli und der Umsturz scheitern. Das Heer führt eine „rücksichtslose Säuberungsaktion“ durch, entlässt die Widerständler aus dem Wehrdienst, womit sofort der Volksgerichtshof zuständig wird. Am 15. August verurteilt Roland Freisler Egbert Hayessen zum Tod. Vaupel schreibt: „Nur zwei Stunden nach der Verhandlung wurde Egbert Hayessen mit einer dünnen Schnur am Fleischerhaken in Plötzensee erhängt.“
Zu diesem Zeitpunkt ist die Familie inhaftiert. Nach und nach werden sie entlassen und treffen – körperlich und psychisch angeschlagen – auf dem Mittelhof ein. Am meisten hat Hans-Hayo mit den Folgen zu kämpfen. „Heute würde man sagen: Ich war schwer traumatisiert“, sagt er. „Im Grunde genommen ging die Grundschule an mir vorbei. Ich saß da und habe aus dem Fenster geschaut.“ Zudem galt er auch nach dem Krieg noch als „Verräterkind“.
Umzug nach Bad Driburg
Dennoch verbindet Hayessen viele positive Erinnerungen an seine Kindheit auf dem Mittelhof, wo er bis zum Tod des Großvaters 1954 mit Mutter und Bruder lebte. „Die Großeltern haben uns aufgenommen. Meine Mutter, die auf dem Hof mitarbeitete, war nie wieder ganz gesund und zu längeren Aufenthalten im Sanatorium gezwungen.“
1954 zieht Margarete Hayessen mit ihren Söhnen nach Bad Driburg in eine kleine Dachwohnung. Das Geld ist knapp, denn Margarete Hayessen bekommt eine Art „Hilfsrente“. Erst spät kann sie eine angemessene Witwenrente erfolgreich einklagen. In Bad Driburg findet sie schnell Anschluss und wird – auch dank ihrer wunderbaren Singstimme – in der evangelischen Kirchengemeinde gut aufgenommen. Mit dem Wechsel an die evangelische Volksschule wendet sich auch für Hans-Hayo das Blatt. Schulleiter Erich Dümker fördert den Jungen. „Er hat mich aus meiner Trance geholt. Ich habe in drei Jahren das nachgeholt, was ich in sieben hätte lernen sollen. Ich bin dankbar dafür, dass es diesen Lehrer gab.“
Wertvolle Begegnungen mit Kindern anderer Widerstandskämpfer
Über seine Erlebnisse sprechen konnte er vor allem mit den Söhnen und Töchtern der anderen Widerstandskämpfer. Die Stiftung „20. Juli“ organisierte Jugendtreffen und Ausflüge. „Die Begegnungen waren wertvoll für mich. So habe ich erfahren, dass gleichaltrige Kinder unter ähnlichen Folgen zu leiden hatten. Und Graf Schwerin, der als 15-Jähriger im Kinderheim Borntal untergebracht war, konnte über viele Dinge berichten.“
Nach der Schule macht Hans-Hayo Hayessen in Kassel eine Ausbildung zum Elektromaschinenbauer, es folgt der Wehrdienst und anschließend eine weitere Ausbildung zum Kaufmann im Kfz-Handel. Beruflich ist er erfolgreich, privat ist er seit 50 Jahren glücklich mit Ehefrau Karin verheiratet. „Ohne meine Frau hätte ich das nicht geschafft“, sagt Hayessen.
Bewunderung für den Mut des Vaters
Mit jetzt 80 Jahren kann er halbwegs gelassen zurückblicken. Sein Vater, den er nie kennenlernte, hatte seine Familie nicht in die Pläne eingeweiht. „Dass mein Vater so sehr in die Operation Walküre involviert war, habe ich lange nicht für möglich gehalten. Er ist ein sehr hohes Risiko eingegangen. Er wusste, dass man ihn zum Tode verurteilen würde. Ich weiß nicht, ob ich das durchgestanden hätte. Für mich ist er ein Held, ja“, sagt Hans-Hayo Hayessen.
Seit 2013, anlässlich des 100. Geburtstags seines Vaters, erinnert in Gensungen eine Gedenktafel an den Widerständler Egbert Hayessen. „Es ist wichtig, darüber zu sprechen, was Widerstand unter dem NS-Terrorregime bedeutet hat, welches Unheil und Leid die Nazis verursacht haben, damit sich so etwas nicht wieder ereignet. Sprüche wie ,Früher war alles besser’ oder ,Es war nicht alles schlecht’, bringen mich immer noch Rage.“
Weitere Informationen
Dieter Vaupel: Egbert Hayessen. Erinnerungen an einen fast vergessenen Widerstandskämpfer, Schüren-Verlag, ISBN 3741002666 und im Internet unter zeitzeugen-portal.de/personen/zeitzeuge/volker_hayessen.
Von Ulrike Pongratz