Der Schönecker Jonas Wacker hält bewegende Rede über Kriegserinnerungen seines Urgroßvaters Ludwig

Der Angriffskrieg in der Ukraine bewegt Menschen jeden Alters. Die Ereignisse haben beispielsweise den 17-jährigen Jonas Wacker aus Schöneck dazu gebracht, sich näher mit den Kriegserinnerungen seiner Urgroßeltern auseinanderzusetzen. Zur Mahnwache in Kilianstädten hat er kürzlich eine bewegende Rede gehalten.
Schöneck – Unsere Zeitung hat den 27. März 1945, den Jahrestag eines Angriffs auf Kilianstädten mit tödlichen Folgen zum Anlass genommen und veröffentlicht Auszüge aus der Rede des jungen Mannes, in der er Bezug auf die Kriegsereignisse vor 77 Jahren in seinem Heimatort nimmt.
Plötzlich ist Krieg in Europa
„In einigen Tagen werde ich 18 Jahre alt, mache im nächsten Jahr mein Abitur und dann steht mir die Welt offen. Zumindest dachte ich das bis zum 24. Februar. Vor wenigen Wochen griff der russische Präsident Putin völlig unerwartet die Ukraine an – und damit die gesamte westliche und europäische Wertegemeinschaft. Und plötzlich ist Krieg in Europa.
Gerade war ich froh, dass die Corona-Pandemie nun endlich beherrschbarer erscheint. Schmerzlich haben wir alle erfahren, was es bedeutet, nicht frei leben zu können. Nun wird unsere Freiheit auf ganz andere Art und Weise schon wieder bedroht. Meine Generation, meine Eltern und auch meine Großeltern kennen Krieg in Europa nur aus Geschichtsbüchern. Anders ist das bei meinen Ur-Großeltern: Senni und Ludwig Wacker sind beide in Kilianstädten geboren, aufgewachsen und leben noch immer hier. Sie haben den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Obwohl sie bei Kriegsende erst elf und 14 Jahre alt waren, hat diese Zeit sie geprägt.
Ur-Ur-Großvater fällt an der Front
Senni hat bis heute die Briefe ihres Vaters aufgehoben, die er ihr als Soldat von der Kriegsfront geschrieben hatte. Auch die Todesnachricht hat sie aufgehoben, in der mitgeteilt wurde, dass er ‘in soldatischer Pflichterfüllung für Führer, Volk und Vaterland’ gefallen ist.
Mein Uropa Ludwig erzählte mir, wie er die letzten Kriegswochen in Kilianstädten erlebte: Am Samstag, den 24. März 1945, wurde er aus der Schule entlassen. Einen Tag später stellte Pfarrer Lutzel ihn und weitere Jugendliche des Geburtsjahrgangs 1930/31 zur Konfirmation vor. An diesem Tag gab es Fliegeralarm und schon um 9 Uhr heulten die Sirenen. Pfarrer Lutzel verkürzte den Gottesdienst in der Kirche, da Bombardierungsgeräusche aus Richtung Frankfurt zu hören waren.
Tieffliegerangriff auf Kilianstädten am 27. März 1945
Die immer näher kommenden Geschützdonner machten alle nervös und trieb die Kilianstädter in die Bunker und Luftschutzkeller. Richtig sicher waren die Bunker jedoch nicht. Sie waren zum Teil in Lehmböden gegraben und mit Fichtenholzbalken abgestützt. Etwas sicherer waren die Luftschutzkeller, die in den Gewölbekellern der Kilianstädter Fachwerkhäuser eingerichtet und mit Eisentüren versehen waren. Sie standen nicht nur den Hausbewohnern, sondern auch den Nachbarn zur Verfügung. Man rückte zusammen. Am Morgen des 27. März gab es einen Tieffliegerangriff auf den Kilianstädter Bahnhof und die dortige Umgebung. Einige Menschen, die gerade aus dem Zug ausgestiegen waren, wurden von Philipp Schmidt in dessen Haus in Sicherheit gebracht. Er selbst und drei weitere Personen schafften es jedoch nicht mehr rechtzeitig ins Haus und wurden von Schüssen getroffen und getötet. Die Flieger schossen auf alles, was sich bewegte. Sogar die zehnjährige Anna Repp aus der Feldstraße wurde erschossen, als sie am Neuberg Blumen pflückte.
„Der Friede in Europa ist in Gefahr“
Der Kilianstädter Hauptlehrer, Herr Adamy, wurde ebenfalls von Schüssen der Tiefflieger tödlich getroffen während er mit dem Fahrrad zwischen Wilhelmsbad und Mittelbuchen unterwegs war. Insgesamt verloren 106 Kilianstädter in diesem furchtbaren Krieg ihr Leben oder blieben vermisst. Es war eine schlimme Zeit mit vielen Entbehrungen, denn auch die Nahrungsmittelversorgung war schlecht und fast alle hatten tote Familienmitglieder, Verwandte oder Freunde zu beklagen.
Mich macht es traurig und nachdenklich, wenn meine Ur-Großeltern vom Zweiten Weltkrieg erzählen. Wie gut, dass wir den Hass von damals überwunden haben und in einer ganz anderen Zeit leben. Für mich ist es selbstverständlich, Menschen aus anderen Ländern zu begegnen und friedlich mit ihnen zusammenzuleben. Doch was mir bislang so selbstverständlich scheint, ist es offenbar nicht. Der Friede in Europa ist in Gefahr.“ fmi