Schöneck: Geeti Sayad blickt voller Sorge auf die Situation der Frauen in ihrem Heimatland Afghanistan

Ein Jahr lang konnte Geeti Sayad ihren Traum leben. Als Rechtsanwältin unterstützte sie bei der Organisation Global Rights in Afghanistans Hauptstadt Kabul Frauen in Not. Als ihr Leben aufgrund ihres Engagements in Gefahr gerät, flüchtet sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Und muss von dort hilflos mit ansehen, wie die radikalislamischen Taliban 2021 das zweite Mal die Macht in ihrem Heimatland übernehmen und den Frauen all ihre Rechte rauben. „Es ist, als wären ihre Leben einfach gelöscht“, sagt sie.
Schöneck – Geeti Sayad ist vier Jahre alt, als die Taliban das erste Mal über Afghanistan herrschen. „Warum dürfen Mädchen nicht zur Schule gehen? Was kann ich machen?“, fragt sie ihre Mutter. „Wenn du für deine und die Rechte anderer Menschen kämpfen willst, musst du Jura studieren“, erklärt diese ihrer Tochter. Die Idee setzt sich in Geeti Sayads Kopf fest. Es ist kein einfacher Weg, doch das Mädchen will es schaffen.
Die junge Frau wird Rechtsanwältin
Bis zu ihrem neunten Lebensjahr wird Geeti zu Hause unterrichtet. Die Eltern, beide Lehrer, merken schnell, dass ihre Tochter intelligent ist. Die Sprache Urdo lernt sie, weil sie Trickfilme im Fernsehen schaut. Heute spricht sie sieben Sprachen. Neben Deutsch und Englisch beherrscht sie unter anderem Persisch, Paschai, Paschto und Urdo.
Geeti darf schließlich zur Schule gehen. 2001 marschieren internationale Truppen in Afghanistan ein und vertreiben die Taliban. 20 Jahre gibt es wieder mehr Freiheiten für Frauen.
Geeti Sayad legt das Abitur ab und studiert Jura. Als sie einen Job bei Global Rights antritt, geht der Kindheitstraum in Erfüllung. „Es war das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe“, sagt die 30-Jährige rückblickend. Sie hilft Frauen, die sich keinen juristischen Beistand leisten können. „Das war ein gutes Gefühl“, sagt Geeti Sayad. Doch sie ist auch Drohungen ausgesetzt. Selbst nachdem die Taliban abgezogen sind, ist es gefährlich, sich für Frauenrechte zu engagieren.
Kompletter Neustart in Deutschland
Als Geeti Sayad ein Mädchen zur Welt bringt, ist ihr klar: Dieses Kind und ihre Familie zu schützen, ist jetzt ihre wichtigste Aufgabe. Gemeinsam mit ihrem Mann entscheidet sie sich schließlich, das Land zu verlassen. Das war vor acht Jahren.
Ihr Fluchtweg führt nicht wie der vieler anderer über das Meer. Da ihr Mann am Flughafen arbeitet, kann die junge Familie Afghanistan über den Luftweg verlassen. Nach mehreren Wochen in Auffanglagern – sie war damals zum zweiten Mal schwanger – ist sie froh, am Ende ihrer Flucht in Schöneck angekommen zu sein.
In Deutschland fängt sie noch einmal komplett von vorne an. Geeti Sayad lernt in kürzester Zeit Deutsch, hilft anderen Geflüchteten zunächst ehrenamtlich als Dolmetscherin, unterstützt später das Jobcenter in Hanau. Sie arbeitet mittlerweile auch wieder in einer Rechtsanwaltskanzlei. Ihre Ausbildung zur Notarfachangestellten wird sie in wenigen Monaten abschließen.
Geeti Sayad fühlt sich zu Hause in Schöneck
Ihre Tochter und ihr Sohn sind heute sechs und acht Jahre alt. Geeti Sayad ist glücklich, dass die beiden in Freiheit aufwachsen können. In Deutschland fühlt sie sich sehr wohl „überhaupt nicht fremd, es ist wie ein zweites Zuhause“, sagt sie.
Voller Entsetzen verfolgt sie am 15. August 2021 wie die Taliban zum zweiten Mal die Macht in Afghanistan an sich reißen. „Der bisher schlimmste Tag in meinem Leben“, betont Geeti Sayad. Sie ist erfüllt von Unruhe, läuft hin und her und verfolgt beklommen die Bilder auf dem Fernsehbildschirm, macht sich Sorgen um ihre Familie. „Natürlich war auch vorher nicht alles perfekt, doch es gab wenigstens ein paar Rechte für Frauen, sie durften zur Schule gehen, studieren, arbeiten.“
Jetzt dürfen Frauen in Afghanistan praktisch nichts mehr. Sie dürfen nicht alleine einkaufen, nicht in Restaurants essen, keine Konzerte besuchen, keinen Sport treiben, noch nicht einmal ohne männliche Begleitung mit ihren Kindern auf einen Spielplatz gehen. „Mehr als 18 Millionen Frauen werden wie Gefangene gehalten. Es ist unvorstellbar und unakzeptabel“, sagt Geeti Sayad. Dass die Weltöffentlichkeit wegschaut, macht die junge Frau traurig. „Die Situation für Frauen ist heute schlimmer als vor 500 Jahren. Es ist eine Katastrophe und fast keiner spricht mehr davon“, sagt sie. Dabei müsse es doch ein Menschenrecht auf Bildung geben.
Stimme für unterdrückte Frauen sein
Geeti Sayads vier Geschwister leben mittlerweile ebenfalls im Ausland. Nur ihre Eltern sind in Afghanistan geblieben. „Mein Vater sagt, sein Heimatland sei wie eine Mutter. Und seine Mutter verlässt er nicht“, erzählt die junge Frau. Telefonate sind alles, was möglich ist, um in Kontakt mit den Eltern zu bleiben. Denn eines ist klar: So lange die Taliban in Afghanistan das Sagen haben, kann Geeti Sayat nicht in ihre Heimat zurückkehren.
Viel kann sie nicht tun. Außer öffentlich auf die Situation hinzuweisen. „Ich will die Stimme werden für die Frauen, die keine Möglichkeit haben, selbst zu sprechen.“
Von Mirjam Fritzsche