Achten auf „persönlichen Sabbat“

Viele Leute haben vom Alltag der Geistlichen ein gänzlich falsches Bild. Am Sonntag den Gottesdienst zu halten, spiegelt den geringsten Teil der Arbeit wider. Annika Theophil weiß das schon seit ihrer frühsten Kindheit. Vor anderthalb Jahren übernahm die Theologin mit der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde ihre erste Pfarrstelle.
Mühlheim – „Der Juli 2021 war zum Einstieg nicht schlecht“, erinnert sich die 31-Jährige. Nach dem Einführungsgottesdienst wusste die in Kornwestheim aufgewachsene Frau, sie kann sich nur von einem Bruchteil der Leute den Namen merken, die sich ihr gerade vorstellen. Offen spricht die Wahl-Mühlheimerin auch von ihrem Bammel vor der Premiere, von Fragen, die sich durchaus eignen, um Albträume thematisch zu füllen: „Wirst Du mit dem Schreiben der ersten Predigt auch fertig?“ Letztlich kein Problem für die Pfarrerin mit der angenehmen Stimme vor dem Altar, die sich schnell den Ruf erarbeitete, besonders engagiert zu sein. Theophil betont, sich anders zu organisieren, als sie es in der Kindheit erlebt hatte. Die Schwäbin wuchs selbst in einem Pfarrhaus auf, erlebte, wie ihr Vater zuweilen keinen freien Tag mehr hatte. Sie achte deshalb darauf, ihren persönlichen Sabbat zu nehmen, auch wenn der Tag als solcher nicht in Stein gemeißelt sei, „wenn am Montag doch was ganz Wichtiges anliegt, dann nehme ich mir eben einen anderen Tag frei“.
Wenn Theophil von ihrem Anfang in der Gemeinde spricht, deren rund 1 600 Mitglieder sich vor allem in Lämmerspiel und dem Markwald finden, resümiert sie: „Es war gut, dass damals gleich die Sommerferien anfingen“. So hatte die neue Pfarrerin erst mal ein wenig Luft, sich einzurichten und zurechtzufinden. Zugute kamen ihr auch die Sommergottesdienste, die turnusmäßig zwischen den protestantischen Gemeinden wechseln.
In den Räumen der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde fühlte sich Theophil sofort aufgehoben. Das hängt auch damit zusammen, dass es in protestantischen Gottesdiensten generell kein Problem ist, einen Platz zu finden, wenn nicht gerade Ostern oder Weihnachten im Kalender steht. Das gilt erst recht für die traditionell katholischen Ortsteile Mühlheims: „An normalen Sonntagen kommen zwischen 15 und 20 Besucher.“ Die verlieren sich dann nicht in einer viel zu großen Kirche mit festen Kirchenbänken. „Wir können die Stuhlreihen anpassen und im Halbkreis aufstellen“.
Eine Trauung nahm Theophil noch nicht vor. Das dürfte daran liegen, dass sich Hochzeiten in den vergangenen Jahren vor allem zum Event-Thema entwickelten, beladen mit ganz viel Perfektionserwartung. Die Fernsehformate der Privatsender dienen als Vorlage, denen es nachzueifern gilt. „Weil wir mit unseren Räumen natürlich nicht mithalten können“, weiß die Pfarrerin, warum sie noch niemandem die Frage „Willst Du...?“ stellte.
Wenn Krankenwagen zu einem Unfallort fahren, herrscht im Inneren bei Ärzten und Sanitätern angespanntes Schweigen, vor allem dann, wenn sie wissen, dass Kinder betroffen sind. Emotional vergleichbar geht es wohl Geistlichen, die ein Kind beerdigen müssen. Den Hinterbliebenen da irgendeinen Trost zu spenden, sei letztlich nicht möglich. So gesehen habe sie bei Beerdigungen bisher „großes Glück gehabt“, meint die Pfarrerin, denn sie musste noch nicht als Geistliche am Grab eines unter Sechzigjährigen stehen, wenn natürlich die Angehörigen auch bei älteren Verstorbenen trauerten. Diese könnten sich aber zumindest meist damit trösten, dass der Verstorbene auf ein erfülltes Leben zurückblicke. Offen sei sie auch, was die musikalischen Wünsche für Beisetzungen betreffe. Auf Songs wie „Geboren, um zu leben“ oder „I did it my way“ käme sie zwar nicht von sich aus, „aber es geht ja schließlich auch nicht um mich“.
Das erste Jahr habe sie als schön, aber auch als anstrengend empfunden. Jetzt merke sie jedoch, wie die langsam einsetzende Routine sie entspanne. (Stefan Mangold)